Schmerz, Fluch, Trauma Spanische Armada reißt Englands tiefste Wunden auf

Harry Kane tröstete nach der England-Pleite den völlig aufgelösten Jude Bellingham.

Harry Kane tröstete nach der England-Pleite den völlig aufgelösten Jude Bellingham.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Oh, England! Das nationale Trauma geht weiter, weil die englische Fußball-Nationalmannschaft seit 1966 verflucht ist. Im EM-Finale entdeckt Spanien historische Seeschlachten wieder - und fügt den Three Lions Tränen und "Herzschmerz" zu.

Da sind sie wieder, die Comeback-Könige. Wie schon so oft bei der Europameisterschaft in Deutschland schlagen sie auch im Finale in Berlin aus dem Nichts zu. Sind nicht unterzukriegen. England trifft mit dem ersten Schuss aufs Tor in der zweiten Halbzeit zum Ausgleich gegen geschockte Spanier, die zuvor das Endspiel dominieren, und stellt die Partie auf den Kopf. Doch nur wenig später regieren Frust und Schmerz. Die Furia Roja schnappt sich mit dem 2:1 (0:0)-Erfolg ihren vierten EM-Titel - und reißt damit eine tiefe Wunde der Three Lions auf dramatische Weise wieder auf.

Denn Last-Minute-Treffer können auch die Iberer, das weiß jeder deutsche Fußballfan nur zu gut. Und so schreibt dieses EM-Finale im ausverkauften Olympiastadion eine hochspannende Geschichte mit einem späten Siegtreffer der spanischen Nationalelf - der England zurück ins Tal der Tränen katapultiert. Ein Trauma, das der englische Fußball endlich hinter sich lassen wollte, lebt wieder auf. Der Fluch, den man endlich besiegen wollte, meldet sich brutal zurück.

Als 1588 die spanische Armada von Englands Flotte zermalmt wird und das Ende eines Weltreichs beginnt, als von 1739 bis 1742 die beiden Kolonialmächte sich wegen eines abgeschnittenen Ohres bekriegten, da ahnte noch niemand, dass die Rivalität der Geschichte irgendwann auf das Fußballfeld überschwappen könnte. Dass die spanische Armada 436 Jahre später mit einer weiteren goldenen Generation in Person von Lamine Yamal, Nico Williams, Dani Olmo und Steuermann Rodri auf dem Rasen wieder aufleben würde - schnell, wendig und gefährlich wie die englischen Schiffe damals. Dass in Berlin die Vorherrschaft nicht auf den Weltmeeren, sondern im Weltfußball ausgefochten werden und Spanien als deutlicher Sieger, Europameister und Topfavorit für die Weltmeisterschaft 2026 in der Neuen Welt, in Kanada, Mexiko und den USA, emporsteigen würde.

"Three Lions erleiden Herzschmerz"

Während die Furia Roja den Silberpokal in die Höhe reckt, erkennt Englands Trainer Gareth Southgate nach dem Abpfiff an: "Wir waren nicht gut genug, um das Spiel zu gewinnen." Die englische Presse, die nicht bekannt ist fürs Zurückhalten, sieht eine "Qual für England ("Daily Mail") und eine "weitere Enttäuschung ("Mirror"). Das Tabloid "The Sun" urteilt: "Three Lions erleiden erneut Herzschmerz - Southgate und seine Helden scheitern an der letzten Hürde."

Dabei sind die zehntausenden englischen Fans in der Hauptstadt am Samstag und Sonntag voller Vorfreude. Diesmal muss es einfach gelingen. Diesmal muss er nach Hause kommen, der Football. Diesmal wird der Fluch besiegt, der seit 1966 auf den Three Lions lastet, als sie im WM-Finale Deutschland mit dem legendären Wembley-Tor besiegten und anschließend nie wieder ein großes Turnier gewannen (anders als die Frauen, die 2022 den EM-Titel holten). Aus voller Seele singen die Anhängerinnen und Anhänger "Hey Jude" von den Beatles vor dem Anpfiff und alles scheint gemacht für einen Tag für die Geschichtsbücher.

Lange passiert dann aber nichts. Nach einem Griff nach dem Fußball-Weltreich sieht das nicht aus, was die 22 Männer auf dem Rasen treiben in den ersten 45 Minuten. Spanien dominiert mit Passstafetten und Ballbesitz, kann sich allerdings keine einzige Großchance herausspielen. Größter Aufreger: Mittelfeld-Boss Rodri rutscht das Hemd, das er sich sonst stets als einziger auf dem Feld adrett einsteckt, aus der Hose. Der Mann von Manchester City, der dazu seinen Teamkollegen Phil Foden komplett aus dem Spiel nimmt, hat das Spielgeschehen mit seinem Nebenmann Fabián Ruiz im Griff und wird später zum Spieler des Turniers ernannt. Der "Guardian" schreibt im Liveticker: "Pint of wine anyone?" Möchte jemand ein Glas Wein gegen die Langeweile?

Den Three Lions ist das aber ganz Recht. Der Sieg über den Fluch ist weiterhin möglich, das Tal des Schmerzes wirkt weit entfernt. In Person von Foden kommt England kurz vor dem Pausentee gar zur besten Chance: Mit dem einzigen Schuss der Männer von der Insel bringt der Offensivkünstler die Kugel im Grätschflug aber nicht stark genug auf den Kasten von Keeper Unai Simon. Wichtig ist aber vor allem, dass Spaniens hochgelobte Offensive bisher im Keim erstickt wurde.

England befreit sich aus Seenot

Die zweite Hälfte, jedoch, wird spektakulär, dramatisch - und historisch. Los geht es mit einem rasanten Start und der Wiedergeburt der spanischen Armada. Einen schnellen Angriff über die rechte Seite treibt Yamal in den Sechszehner. Das Wunderkind, das erst am Samstag seinen 17. Geburtstag gefeiert hat und mit dem Anpfiff zum jüngsten Spieler in einem EM-Finale jemals wurde, passt genau im richtigen Moment nach links zu Williams, der humorlos und direkt abschließt und ins lange Toreck trifft (47.). Die beiden Kumpels jubeln, Spaniens Anhängerinnen und Anhänger rasten aus, Yamal holt sich seine vierte Vorlage im Turnier ab. Das geht alles zu schnell für die englische Flotte, die wie ein schwerer Öltanker daherkommt.

Wie antworten die Three Lions? Erst mal gar nicht. Nur eine Minute später hat Olmo, der mit einem Lauf beim 1:0 kurz zuvor Walker aus dem Konzept gebracht hatte, das nächste Tor auf dem Fuß. Der Leipziger verzieht aber nach einer herausragenden Ballan- und -mitnahme aus elf Metern. Und als kurz darauf die spanischen Fans die Nationalhymne krakeelen, ist Álvaro Morata auf einmal durch - wieder kommt der Pass von Yamal - und spitzelt die Kugel an Pickford vorbei, aber auch am Tor. Nur wenige Sekunden später knallt Williams aus 20 Metern das Leder knapp neben den linken Pfosten.

England schwimmt, England ist in akuter Seenot, England spürt, wie der Fluch erneut überhandnimmt. England sieht geschlagen aus. Doch, weil die spanische Armada nicht ein zweites Mal trifft, ist England immer noch im Spiel - und schlägt wie so häufig im Turnier eiskalt zurück. Aus dem Nichts gibt es über Bukayo Saka einen ansehnlichen Angriff, Jude Bellingham legt im Sechszehner mit einem kurzen Kontakt noch mal kurz zurück, dort rauscht der eingewechselte Cole Palmer heran und schießt platziert mit der Innenseite in die linke Torecke (73.).

Spanien historisch, England weint

England zeigt es dem Fluch und wird selbst zur Horrorfilmfigur, die immer wieder zum Leben erwacht. Würde das Team alle vier K.-o.-Spiele nach einem Rückstand gewinnen, wäre das historisch gut. Noch nie ist das einer Mannschaft in einem großen Turnier gelungen und England selbst hatte solch ein Comeback vor dem EM-Achtelfinale in 94 Jahren insgesamt nur dreimal geschafft. Stattdessen sichert sich aber Spanien den historischen vierten EM-Titel, mit dem die Furia Roja an Deutschland als alleiniger Rekordsieger vorbeizieht.

Und die tiefe Wunde der Three Lions klafft erneut schmerzhaft auf. Das nationale Trauma, einfach keinen Männer-Titel mehr gewinnen zu können, erhält ein neues, tragisches Kapitel. Nach der bitteren Pleite im Elfmeterschießen gegen Italien bei der EM 2021, ist es diesmal ein Tor in der 86. Minute, das alle Luft aus den englischen Segeln saugt. Das die Hoffnung und Freude der Fans in Tränen verwandelt.

Auf eine Mega-Chance durch Yamal nach einer Armada-Traumkombination - Jordan Pickford ist mit einer guten Parade zur Stelle - antworten die Fans in den roten Hemden mit "Si, se puede"-Rufen. Wir schaffen das. Und sie schaffen es tatsächlich: Marc Cucurella zeigt es den wegen seines Handspiels im Viertelfinale immer noch stupide pfeifenden deutschen Fans, spielt eine präzise Hereingabe auf den kurz zuvor aufs Feld gekommenen Mikel Oyarzabal, der das Leder kurz vor Pickford zum großen Triumph ins Netz spitzelt.

Tiefe Wunde aufgerissen

Zwar kommen die Three Lions noch einmal zu einer irren dreifachen Kopfballchance, aber mehr als laute englische Flüche sind nach der vergebenen Möglichkeit bis zum Abpfiff nicht mehr zu hören. Diesmal hat die spanische Armada gesiegt und die junge Mannschaft dürfte auf den Weltmeeren des Fußballs in den kommenden Jahren für mächtig Furore sorgen. Während ein paar hundert Kilometer entfernt am Nachmittag ein anderer, nur vier Jahre älterer Spanier, Carlos Alcaraz, vor Prinzessin Kate eine nicht ganz so geübte Verbeugung nach seinem gewonnenen Wimbledon-Finale hinlegte, klatscht Wunderkind Yamal in Berlin kumpelhaft beim spanischen König Felipe ab, als wäre das alltäglich für einen 17-Jährigen.

21.169 Tage des quälenden Wartens seit 1966 - und der Fluch hält an. Er trifft genau ins Mark. Verletzt die zutiefst emotionalen Fans von der Insel abermals. Schmerzverzerrte englische Gesichter regieren auf dem Rasen und außerhalb des Stadions. Ein Fan hält sich minutenlang die Arme über den Kopf, ist völlig schockiert. Andere lassen ihrem Frust freien Lauf und fluchen: "Bei jedem verdammten Turnier gewinnen wir einen Scheißdreck!"

In der U-Bahn ist ein kleiner Junge den Tränen nah. Er muss er noch verstehen, dass das neue Weltreich auf dem Grün in den kommenden Jahren wohl die rote Fahne hissen wird. Er muss den Fluch und die immer neuen Tragödien seines Teams erst noch kennenlernen. Den Schmerz, der den englischen Fußball stets begleitet. Die tiefe Wunde, die wieder einmal aufgerissen wurde.

Quelle: ntv.de

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