Abgezockt ins WM-Finale Wie ein "Workaholic" England zur Fußball-Macht formt

Wiegman und ihr Team schaffen es wieder ins Finale.

Wiegman und ihr Team schaffen es wieder ins Finale.

(Foto: REUTERS)

Die Europameisterinnen aus England spielen auch um den WM-Titel. Bei dem Turnier in Australien und Neuseeland zeigt Trainerin Sarina Wiegman einmal mehr ihre Meisterklasse. Die Niederländerin steht zum vierten Mal in Folge in einem WM- oder EM-Finale. Die Engländerinnen coacht sie zu abgezockten Assen.

Chloe Kelly läuft in der vierten Minute der Nachspielzeit mit dem Ball am Fuß aus dem Toraus zurück aufs Spielfeld. Dabei hat Australiens Torhüterin Mackenzie Arnold Abstoß und sich den Ball längst hingelegt. Die Engländerin kassiert dafür die Gelbe Karte von Schiedsrichterin Tori Penso wegen unfairer Spielverzögerung - doch es könnte Kelly nicht egaler sein. Es gehört zur Abgezocktheit der Europameisterinnen, dieses Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft über die Bühne zu bringen.

Zwei Minuten später feiert Kelly mit ihren Kolleginnen den Einzug ins Finale, die Träume der Gastgeberinnen haben sie erfolgreich platzen lassen. Ein souveräner 3:1-Sieg steht für die Engländerinnen zu Buche. Nur kurz hat Australiens Superstar Sam Kerr, die erstmals bei diesem Heim-Turnier nach ihrer Wadenverletzung in der Startelf stand, ihre euphorisierte Nation hoffen lassen. Mit einem Wahnsinnstor nach einem Pass in der eigenen Hälfte, einem Sololauf und eben einem Schuss aus der Distanz überwindet sie Welttorhüterin Mary Earps (63.). Sie muss aber nur einmal hinter sich greifen, ihre Gegenüber, Arnold, gleich dreimal nach Treffern von Ella Toone (36.), Lauren Hemp (71.) und Alessia Russo (86.).

Die Gelbe Karte hat für Kelly keine Folgen, sie darf im Finale gegen Spanien (Sonntag, 12 Uhr/ZDF und im ntv.de-Liveticker) spielen. Ihre Spielverzögerung passt zur englischen Taktik in den Schlussminuten. Beim Stand von 3:1 bringen die Lionesses das Spiel mit langen Bällen aus der eigenen Hälfte ins Nichts, mit Läufen an die Eckfahne und eben anderen Verzögerungsmanövern über die Bühne. Das erlebte das DFB-Team im vergangenen Jahr bereits im EM-Finale, das erlebt nun Australien. Es ist nicht immer schön, was England mit der ganzen Klaviatur an Abgeklärtheit auf dem Feld macht, aber es ist erfolgreich - und nur ein kleiner Aspekt des technisch und taktisch versierten Fußballs, das England bieten kann.

Wiegman ist ein "Workaholic"

Die Europameisterinnen stehen schon wieder in einem Finale. Diesmal in dem der Weltmeisterschaft. Für Trainerin Sarina Wiegman ist es gar das vierte Finale in Folge. Alles begann 2017 bei der EM, als sie ihr Heimatland Niederlande, zu Hause zum EM-Titel führte. 2019 stand sie dann im WM-Finale, in dem sie sich gegen die USA geschlagen geben mussten. Wiegman wechselte die Nation und führte England 2022, wieder bei einem Heim-Turnier, zum EM-Titel. Nun könnte die endgültige Krönung bei der WM folgen. "Keine Ahnung", antwortet sie auf die Frage, wie sie das geschafft hat. "Die Chance, es ins Finale zu schaffen, ist schon besonders. Nun ist es wie ein Märchen."

Die Niederländerin, FIFA-Welttrainerin des Jahres 2017, ist laut ihres ehemaligen Co-Trainers Foppe de Haan ein "Workaholic". 99 Mal hatte sie selbst für ihr Nationalteam gespielt, als Trainerin aber ist sie wesentlich erfolgreicher. Detailversessen ist sie selbst abseits des Platzes. Zu Beginn der WM hatte der Social-Media-Bann für ihre Spielerinnen für Aufsehen gesorgt, die Engländerinnen dürfen selbst nur posten, was der Verband zur Verfügung stellt. Die Konzentration gilt voll dem Sportlichen.

Der Erfolg gibt ihr Recht. Die Engländerinnen sind als Favoritinnen in dieses Halbfinale gegen Australien gegangen, doch die unbändige Euphorie im Land machte die Gastgeberinnen unberechenbar. England aber zeigte auch noch einmal eine Leistungssteigerung im Turnier, das für sie mit einigen Unwägbarkeiten gestartet war. Einige Spielerinnen, die im vergangenen Jahr noch den EM-Titel gewonnen hatten, fehlen im Kader. Kapitänin Leah Williamson und EM-Torschützenkönigin Beth Mead haben beide Kreuzbandrisse erlitten, auch Spielmacherin Fran Kirby leidet an Knieproblemen. Zudem haben die Stammspielerinnen Ellen White und Jill Scott ihre Karrieren beendet.

England besteht gegen alle Probleme

Doch Wiegman vertraut den Spielerinnen, die ihr zur Verfügung stehen, und kommt auch mit unerwarteten Ausfällen zurecht. So wie im zweiten Gruppenspiel gegen Dänemark, als sich Spielgestalterin Keira Walsh verletzte. In der Folge stellte Wiegman auf eine Dreierkette um, mit den offensiver aufgestellten Außenverteidigerinnen Lucy Bronze und Rachel Daly an deren Seite. Sie hat mit Alessia Russo und Lauren Hemp ein kongeniales Offensiv-Duo geformt, das voneinander profitiert: Zu sehen etwa beim 3:1 gegen Australien, als Hemp den Ball im Mittelfeld eroberte, auf den Strafraum zulief und im perfekten Moment auf die mitgelaufene Russo passte, die ins lange Eck einschob. "Über das Turnier haben wir eine starke Verbindung aufgebaut", sagte Hemp nach dem Finaleinzug über Russo und sich selbst. Überhaupt fühle sie sich "wirklich furchtlos" im Moment. Es ist auch ein Verdienst Wiegmans.

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Als Top-Scorerin Lauren James wegen eines Tritts gegen die Nigerinaerin Michelle Alozie im Achtelfinale die Rote Karte gesehen hatte und für zwei Spiele gesperrt worden war, war erneut ein Wechsel nötig. Für sie kam Toone, die Kritik einstecken musste. Doch als vor dem Halbfinale viele forderten, Kelly statt der Frau von Manchester United in die Startelf zu ziehen, hielt Wiegman an ihr Plan fest. Die 53-Jährige vertraut ihren Spielerinnen, verteidigt sie gegen Kritik. Toone zahlte es mit ihrem Führungstreffer zurück. Von Beginn an spielten die Engländerinnen ballsicher und angriffsfreudig, waren deutlich aktiver als die Matildas. Am Ende setzten sie sich dominant durch. "Wir haben drei Tore geschossen. Man hat die ganze Zeit vorab über den Kampf gesprochen", so Wiegman und lobte: "Ich glaube, dieses Team hat einfach gekämpft. Wir haben in der Abwehr den Ball wirklich vom Tor weghalten wollen, wir haben zusammengehalten, wir haben am Plan festgehalten und es hat funktioniert."

Im Finale gegen Spanien, das noch nie in einem Endspiel stand, wird Wiegman aber die Qual der Wahl haben. Dann darf James ins Team zurückkehren. Taktisch wird sich Wiegman auch gegen die Spanierinnen wieder etwas einfallen lassen, sie hat die Engländerinnen in ihrer Amtszeit ab 2021 wesentlich flexibler und facettenreicher gemacht. "Wir sind im Finale. Unglaublich, es fühlt sich sogar schon so an, als ob wir gewonnen haben", sagte sie schon jetzt. Doch ein Schritt ist noch zu gehen. Wiegman ist die einzige Trainerin, die noch im Turnier dabei ist, zwölf Frauen waren an der Seitenlinie gestartet. Geht es nach der Statistik, spricht diese im Finale für sie: Seit 2012 wurden die Weltmeisterinnen und Olympiasiegerinnen immer von Frauen gecoacht.

Quelle: ntv.de

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