Fußball

Mainzer Märchen endet bitter Auf die Tränen des Trainers folgt die Hoffnung

Bo Svensson verabschiedete sich mit Stil aus Mainz.

Bo Svensson verabschiedete sich mit Stil aus Mainz.

(Foto: Torsten Silz/dpa)

Mainz 05 muss mal wieder nach einer schwachen Hinserie eine starke Rückserie hinlegen, um in der Fußball-Bundesliga die Klasse zu halten. Als man vor ein paar Jahren schon mal in dieser Situation war, produzierte man ein kleines Wunder. Das braucht es diesmal allerdings nicht.

Die Vorweihnachtszeit 2020 war beim 1. FSV Mainz 05 alles andere als besinnlich: Sieben Punkte hatte der Klub in einer desaströsen Hinrunde gesammelt, der Klub rang um seine Identität, Menschen und Verein hatten sich voneinander entfremdet. Das Team hatte unter Trainer Sandro Schwarz und Vorgänger Achim Beierlorzer oft gelangweilt, zu oft frustriert und zu selten begeistert. Oder wenigstens Punkte ergaunert. Der Trainer musste gehen. Als Präsident Stefan Hofmann zur außerordentlichen Pressekonferenz lud, hoffte das Volk auf einen emotionalen Befreiungsschlag. Und Emotionen lieben sie in Mainz, auch gute Geschichten. Die größte hatte Jürgen Klopp geschrieben, der vom durchschnittlichen Zweitligakampfschwein zum Welttrainer aufstieg und erst Mainz und dann ganz Fußball-Deutschland Märchen nach Märchen schenkte.

Doch Hofmann hatte keine Versprechen auf eine große, mindestens aufregende Zukunft im Gepäck. Er trat mit leeren Händen vors Volk und hatte nur zu verkünden, dass er keine Ahnung habe, wie es weitergeht. Es gab die Idee, Christian Heidel zurückzuholen, den Mann, der Klopp zum Trainer befördert hatte und der Architekt des kleinen Mainzer Fußballwunders war, das den Klub bis in den Europapokal brachte und mit Thomas Tuchel wie nebenbei aus einem A-Jugendtrainer den nächsten Welttrainer in Ausbildung machte.

Zwischen den Jahren passierte dann eben das, was sie sich erträumt hatten. Wäre es nicht viel zu kitschig für einen Hollywoodfilm, man dürfte es nicht glauben. Heidel ließ sich breitschlagen, noch einmal Verantwortung in Mainz zu übernehmen - unter der Bedingung, dass Bo Svensson sein Trainer werden solle. Svensson, der viele Jahre für Mainz 05 in der ersten und zweiten Liga verteidigt hatte, zog mit. Und ein neues Wunder nahm seinen Lauf.

Der Däne, für eine geringe Ablösesumme vom FC Liefering aus Österreich geholt, schlug ein, nach drei Niederlagen zum Auftakt spielte Mainz 05 beinahe eine Champions-League-Rückrunde, packte auf die kläglichen sieben Hinrundenpunkte noch 29 Punkte drauf. Am Schluss des vom ebenfalls wieder dazugestoßenen Ex-Trainer Schmidt, den Heidel zum Sportdirektor gemacht hatte, zum "geilsten Abstiegskampf aller Zeiten" ausgerufenen Endspurts stand ein vergleichsweise souveräner Klassenerhalt. Svensson nahm die Menschen mit, die auf den Rängen und die auf dem Rasen. Wie Klopp einst.

"Es war gegen halb vier Nachts"

Svensson schickte sich auch an, der neue Klopp zu werden. Der ehemalige Verteidiger, sportlich limitiert, aber kampfstark bis zur Selbstzerstörung, brachte den aufregenden Fußball zurück, die Emotionen, die Ergebnisse. Die Geschichte war perfekt. Auf das Wunder ließ Svensson eine solide, in besonderen Momenten starke nächste Saison folgen, man schlug den FC Bayern und versaute am letzten Spieltag dem BVB die Meisterschaft. Doch irgendwann schien es, als habe man den Stecker gezogen: Nichts wollte mehr gelingen, die Mannschaft entwickelte sich zurück anstatt nach vorne. Und nach einem desaströsen Pokal-Aus beim Zweitligisten Hertha BSC, zog Svensson, den man "nie entlassen hätte", wie Heidel sagte, die Reißleine - und verkündete seinen Rücktritt.

Man hätte die Geschichte zu gerne gemeinsam weitergeschrieben, doch am Ende stand das Scheitern - wie einst bei Jürgen Klopp. Der stieg mit "seinem" Klub erst ab, nach dem verpassten Wiederaufstieg zog er unter Tränen raus in die Welt. Svensson verabschiedete sich viele Jahre später mit einem emotionalen Video von Verein und Fans, das die ganze Liga rührte. Der Ex-Profi, der an der Seitenlinie mehr Gelbe Karten sammelte als jeder andere Trainer, weinte zum Abschied. Sie liebten ihn und als er ging, flossen Tränen, auf allen Seiten.

"Wenn ich ehrlich bin, habe ich nach dem Pokalspiel damit gerechnet, dass ich eine Whatsapp von Bo bekomme, mit dem Inhalt, dass er reden will. Und die kam dann auch", sagte Heidel. "Wir saßen dann noch in der Nacht im Hotel zusammen. Bo, Sportdirektor Martin Schmidt und ich. Es war gegen halb vier Nachts, als die Entscheidung fiel. Wir haben uns anderthalb Stunden ausgetauscht. Bo war sofort sehr klar und sagte, dass er das Gefühl hat, dass jetzt etwas passieren muss."

Sie waren auch schlechter

In Mainz kann sich jetzt Geschichte wiederholen. Denn wieder sind sie auf Trainersuche, wieder zur Weihnachtszeit. Svenssons Nachfolger Jan Siewert, den sie von der eigenen Zweitvertretung abzogen, um die Bundesligamannschaft in den Winter zu retten, holte in sieben Spielen sieben Punkte. Drei davon im ersten Spiel nach Svensson gegen den Spitzenklub RB Leipzig. "Für Bo", verkündeten sie danach beim FSV Mainz 05.

Doch danach reichte es nicht mehr für einen weiteren Sieg, obwohl es mit dem 1. FC Köln, Darmstadt 98, dem 1. FC Heidenheim gegen drei direkte Konkurrenten um den Klassenerhalt ging. Umschwung ist anders, sogar für den Aufbruch ist das eigentlich zu wenig. Doch diesmal ist die Situation eine andere als in der Weihnachtszeit 2020, als nur keine Panik herrschte, weil sich eine bleierne Lethargie über den Klub und das Umfeld gelegt hatte: 2023 hat Interimstrainer Siewert die Mannschaft beruhigt. "Er hatte das Gefühl, nicht mehr der richtige Trainer für diese Mannschaft zu sein", sagte Heidel nach dem Abschied des Dänen. "Die Ergebnisse und die letzten Spiele hätten ihm dies gezeigt." Und Svensson hatte recht, denn der Trainerwechsel brachte - wenn auch erst auf den zweiten Blick - einen Effekt, für den er selbst nicht mehr sorgen konnte.

Die Stimmung ist besser als die Tabellensituation. Und das hat gute Gründe. Denn im Rheinhessischen haben sie zurück zu einer Spielidee gefunden, die Spaß macht: Siewert lässt die Techniker um den Südkoreaner Jae-Sung Lee oder den sich erstaunlich schnell etablierenden A-Jugendmeister Brajan Gruda offensiv wirbeln, schnelle Passstafetten mit eigenem Ballbesitz haben Svenssons Idee vom langen Schlag und dem ständigen Kampf um den Ball abgelöst. Das sorgt für zahlreiche Großchancen.

Statistisch gesehen hätte Mainz 05 unter Siewert satte 17 von 21 möglichen Punkten holen müssen, geht man nach dem Wert der Expected Goals. Der gibt Aufschluss über die Wahrscheinlichkeit, die Qualität des eigenen Spiels auch in Tore ummünzen zu können. Unter Svensson hatte Mainz 05 - folgt man den Erkenntnissen aus den Daten - ein strukturelles Problem im Spiel, das unter seinem Nachfolger beseitigt wurde. Eine Mischung aus Pech und mangelnder Präzision sorgten unter Siewert in der Summe für viele Enttäuschungen, zum Ende der Ära Svensson war man in beinahe jedem Spiel tatsächlich die unterlegene Mannschaft. Kassierte Mainz 05 in den neun Svensson-Spielen noch über drei Tore im Schnitt, waren es unter Siewert vier - insgesamt in sieben Spielen. Punkte bringt diese Erkenntnis nicht, aber sie spricht - auch wenn es unromantisch ist - gegen Svensson. Siewert hat dem unter Svensson bröckelnden Gebilde eine stabile Struktur verpasst, die tragfähig für einen funktionierenden Abstiegskampf ist.

Ein Wunder braucht es nicht

Den Verantwortlichen reicht Siewerts Bilanz: "Er hat das Team stabilisiert. Das sieht man - sieben Spiele, sieben Punkte. Das Team ist solide geworden unter ihm", lobte Sportdirektor Martin Schmidt den 41-Jährigen nach dem 1:1 in Dortmund, mit dem sich das Team versöhnlich in die Winterpause verabschiedete. Wenige Tage später verkündete der Klub, dass der ehemalige Nachwuchstrainer mit einem Cheftrainervertrag bis 2026 ausgestattet wird.

"Der Abstiegskampf hat jetzt richtig begonnen. Dieser eine Punkt vor der Winterpause muss allen einen Schub geben und neues Leben einhauchen", sagte Schmidt noch. Beim letzten Mal haben ein paar große Momente zwischen den Jahren gereicht, um einem ganzen Klub neues Leben einzuhauchen. Durch Mainz weht derzeit noch ein laues Lüftchen, es fühlt sich noch nicht nach einem mächtigen Schub an, wie damals. Man liegt auf dem Relegationsplatz, punktgleich mit Schlusslicht Darmstadt 98, drei Punkte hinter dem ersten Nichtabstiegsplatz. Die Lage ist hart, aber nicht aussichtslos. "Wir sind da, wir leben", sagte Martin Schmidt nun kämpferisch. Es ist nicht die Zeit für ein Wunder. Gut möglich, dass es am Ende der Saison trotzdem nicht wieder Tränen gibt.

Quelle: ntv.de

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