
Emre Can. Im Hintergrund der "Scheiß Rheinmetall-Deal"
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Auch mit dem neuen Trainer Nuri Şahin behält Borussia Dortmund eine Tradition bei: Zum Saisonauftakt gibt es drei Punkte. Das ist nun seit zehn Jahren so. Nach einem Sommer des Umbruchs geben sie sich in Dortmund entspannt. Panik bekommen sie nur beim Blick auf die Tribüne.
Borussia Dortmund ist der Sprung ins Ungewisse gelungen. Der runderneuerte Champions-League-Finalist schlägt Eintracht Frankfurt mit 2:0 (0:0). Es ist der zehnte Sieg zum Bundesliga-Auftakt in Folge. In welchem Zustand das Monster namens Saison den Verein und seine Fans im Mai 2025 wieder ausspucken wird, ist nach dem Sieg durch die beiden Treffer von Jamie Gittens jedoch nicht vorherzusagen.
Aussagekräftig sind Dortmunder Siege zum Saisonauftakt nämlich nicht. Es gelingt ihnen immer. Egal, wer an der Seitenlinie steht. Letztmals hatten sie im letzten Jahr unter Jürgen Klopp zum Auftakt der Spielzeit 2014/2015 verloren. Danach immer nur Siege. Egal, wie der Sommer war.
Der hatte mal wieder Veränderungen gebracht. Die wohl bemerkenswerteste: Aus dem Ur-Dortmunder Edin Terzić an der Seitenlinie war der Ur-Dortmunder Nuri Şahin geworden. Mit gerade 35 Jahren ist der ehemalige Mittelfeldspieler nun also Chef-Trainer im Westfalenstadion.
Von Online-Spielotheken und Rüstungskonzernen
Auf dessen Tribünen mopperten die Fans nach der Pause mit einer Wand aus Tapeten gegen den Deal mit dem Rüstungskonzern Rheinmetall. Vor dem Stadion hatte eine Organisation, die Deutsche Friedensgesellschaft, einen Panzernachbau aus einem Transporter gerollt und darauf gehofft, die Proteste zu kapern. So richtig gelingen wollte es ihnen nicht.
Im Stadion gab es viele Unmutsbekundungen - diese verliefen aber sehr gesittet. Im Vorfeld dürften die angekündigten Proteste für ein wenig Panik bei den Verantwortlichen gesorgt haben. Davon blieb wenig übrig. Auf den Werbebanden sang der Konzern sein Lied von der Verantwortung in einer neuen Welt, danach flimmerte Werbung für Energy-Drinks und Online-Spielotheken über die Laufbänder. Aber auch von diesem bunten Neuzeitflirren wollte sich niemand die Laune rauben lassen.
Die Fans erfreuten sich an den spätsommerlichen Temperaturen und der Rückkehr der Borussia. Gegen Ende des Spiels legten sie ihre Trikots ab, sangen und baten Doppeltorschütze Gittens zu seiner ersten Solo-Stunde vor der Südtribüne.
Aus Beinahe-Gittens wird einfach Gittens
Der 20-jährige Engländer hatte erst in der Sommerpause seinen Doppelnamen Bynoe-Gittens abgelegt. Und damit die Last des Beinahe-Matchwinners. Zu oft waren seine Auftritte ein uneingelöstes Versprechen. Diesmal war es anders. In den 30 Minuten auf dem Platz, er kam nach 60 Minuten für Donyell Malen, war er zum ersten Top-Joker der neuen Saison geworden.
In der 72. Minute hatte Gittens tief einen Ball von DFB-Spieler und Neuzugang Pascal Groß aufgenommen. Er hatte erst den Frankfurter Rasmus Kristensen ausgewackelt und den Ball dann von der Seite kommend über Kevin Trapp geschlenzt. Der hatte zwar seine Hand noch dranbringen können, aber war letztlich machtlos gegen das Tor. Die Dortmunder jubelten, sie konnten ihr Glück kaum fassen. Eigentlich hätten sie fluchen müssen. Denn der Treffer hätte keine Minute vorher auf der anderen Seite fallen müssen.
Nach einer Unaufmerksamkeit von Nico Schlotterbeck war es Farès Chaibi gelungen, frei stehend das Tor aus drei Metern zu verpassen. Der 21-jährige Algerier hatte schlichtweg seinen Fuß nicht rechtzeitig öffnen können. "Wenn Chaibi den macht, dann sieht es natürlich anders aus. Den müssen wir machen", sagte Frankfurt-Trainer Dino Toppmöller nach dem Spiel. "Das war der Schlüsselmoment." Er hatte recht. Die Aktion war der Abschluss 13 aufgeregter Minuten, in denen das Westfalenstadion vibrierte. Die Anhänger beider Teams waren lauter, die Spieler konsequenter und gradliniger. Gute Momente nach einem lethargischen Spiel bis dahin.
Am Ende jubelte der BVB. In der zweiten Minute der Nachspielzeit konnten sie - erneut nach einer Kombination aus Frankfurter Chance (diesmal vereitelt durch eine eingesprungene Grätsche des eingewechselten Ramy Bensebaini) und Konter Gittens - die ersten drei Punkte für diese neu formierte Mannschaft sicherstellen.
Marco Reus ist nur noch ein Wandgemälde
Der große Umbruch in Dortmund hatte im Sommer bekanntlich Terzić freiwillig aus dem Amt als Trainer gespült und die beiden Klub-Legenden Mats Hummels und Marco Reus aus dem schwarzgelben Trikot. "Es ist eine Menge passiert", erklärte Sportdirektor Sebastian Kehl vor dem Spiel am Sky-Mikrofon. Er bezog sich auf die Abgänge und die Neuzugänge Maxi Beier, Serhou Guirassy, Waldemar Anton, Yan Couto und eben jenen Groß, der den Ball später auf Gittens passen würde. In seinem Gespräch nutzte Kehl auch das schöne Wortungetüm "Umstrukturierungsphase".
Die hat zumindest Reus abgeschlossen. Der heuerte kürzlich in Los Angeles an. In der Nacht zum Sonntag dann gelang ihm in seinem ersten Spiel in der MLS sein erster Treffer und sein erster Assist beim 2:0 gegen Atlanta United. In Dortmund ist er nur noch ein Wandgemälde am Aufgang zur Südtribüne. Anders Weltmeister Hummels. Der ist kein Wandgemälde. Er ist etwas weniger Vereinslegende. Aber gerne unterwegs im Internet, wo er viele seiner neuen, noch vereinslosen Abenteuer teilt. "Fühlt sich wenig überraschend recht seltsam an", schrieb er eben dort, versehen mit einem Screenshot des Spiels kurz vor der Halbzeit.
Sahin will Zeit und Geduld
Die ersten 45 Minuten der neuen Borussia ohne Reus und Hummels fühlten sich für den Rest hingegen überraschend bekannt an. Die Mannschaft von Trainer Sahin hatte den Ball, Frankfurt presste den Spielaufbau weg und der BVB verteidigte haufenweise Ecken. So richtig viel passierte nicht.
Die Dortmunder kamen überhaupt erst nach 30 Minuten nach einer Kombination über den ansonsten blassen Donyell Malen, Julian Ryerson und Karim Adeyemi in Form von Marcel Sabitzer zu einem Abschluss. Doch seine hastig eingesprungene Hacke aus fünf Metern war zu schwach, um den Ball wirklich in Richtung Tor zu bugsieren.
Schon bei der Saisoneröffnung Mitte August hatte Sahin an die Fans appelliert. "Ich möchte Euch um einige Sachen bitten, die es im Fußball eigentlich nicht gibt: Zeit und Geduld", sagte er da und wie zum Beweis war auch alles gegen Frankfurt noch im Entstehen. Obwohl Sahin bei Sky stehend nun bereits festhielt: "Ich weiß, dass wir liefern müssen!"
Im Pokal spazierte die Borussia in der Vorwoche mit einem 4:1 über die Gartenzaunhürde Phönix Lübeck, Erkenntnisse gab es dort kaum welche. Unter der Woche dann kündigte Julian Brandt eine bisher noch nie gesehene Passmaschine an. Er sollte, die letzten Jahre als Maßstab nehmend, recht behalten. Gegen Frankfurt gelangen dem BVB fast 700 Pässe, dem Gegner nur knapp 300.
Pascal Groß als BVB-Xhaka
Die Passmaschine soll in Dortmund von Neuzugang Groß angetrieben werden. Der gebürtige Mannheimer kehrte nach sieben erfolgreichen Jahren im Exil in Brighton an der englischen Südküste zurück in die Bundesliga. Der 33-Jährige ist Dortmunds Antwort auf Leverkusens Granit Xhaka, der im vergangenen Sommer als Schlüsselspieler von Arsenal zum späteren Meister gewechselt war.
Groß soll das Tempo dominieren, das Spiel kontrollieren. Groß, der unter 10 Millionen Euro gekostet hat, ist der Königstransfer. Das bewies er mit über 100 Ballkontakten, mit einer Ruhe und mit Gelassenheit. Tempo braucht er dafür nicht. Die Daten wiesen seine Höchstgeschwindigkeit später mit etwas über 26 km/h aus. Zum Vergleich: Top-Sprinter Adeyemi erreichte beinahe 34,57 km/h.

Flag Football in Dortmund: Can schnappt sich das Trikot.
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Die spielerische Misere der Jahre unter dem ehemaligen Trainer Terzić war immer auch in der Panik des Kapitäns Emre Can bei Ballbesitz zu begründen. Mit Groß an seiner Seite kann er sich jetzt ein wenig mehr auf den Balldiebstahl verlassen. Gegen Frankfurt gelang ihm dies hin und wieder. Auch streute er einige Ballverluste ein, doch gefährlich für die Dortmunder Abwehr wurde es deswegen nie.
Wobei eine der Szenen des Spiels Can gehörte. Als Dank erhielt er einen Trikotfetzen. Sein verzweifelter Versuch, den gegen Ende der ersten Halbzeit in Richtung BVB-Tor aufbrechenden Hugo Ekitiké durch ein taktisches Foul zu stoppen, war ihm zwar misslungen. Aber Can hatte im Reißen ein rotes Stück des Trikots des jungen Frankfurters ergattern können. Er schmiss es im hohen Bogen auf den Rasen. Dort blieb es etliche Minuten liegen.
Zwayer bleibt unauffällig
Schiedsrichter Felix Zwayer ignorierte Cans Versuch bei seiner Rückkehr zum BVB beinahe drei Jahre nach seinem letzten, von einem meckernden Jude Bellingham begleiteten Auftritt in Dortmund. Der Berliner fiel im Spiel nicht weiter auf und dürfte damit hochzufrieden sein.
Wie auch Gittens. "Das erste Spiel ist so wichtig. Es ist ein verrücktes Gefühl, zwei Tore vor den besten Fans der Welt zu schießen", schwärmte der nach dem Spiel. Auch er konnte da nicht wissen, wohin die Reise in dieser Saison gehen wird. Im Sportstudio kämpfte Trainer Sahin mit den neuen Erwartungen. Dabei blieb er offensiv. Wenn es in die Endphase der Saison geht, sagte der Sauerländer, dann hätte er nichts dagegen, noch oben dabei zu sein. So weit ist es noch nicht. Jetzt geht erst einmal alles wieder von vorne los. Der BVB hat mit 66 Prozent Ballbesitz, mit unzähligen Pässen und Kontrolle gezeigt, was passieren kann. Angekommen sind sie noch nicht. Hat aber auch niemand erwartet. Der Sprung ins Ungewisse ist gelungen.
Quelle: ntv.de