Freiburg feilt an der Sensation Der große Streich gegen den Ost-Giganten
21.05.2022, 11:10 Uhr
Christian Streich hat seinen ersten großen Titel im Blick.
(Foto: dpa)
Einen großen Titel hat der SC Freiburg in seiner langen Klubgeschichte noch nicht gewonnen - nun winkt am Ende einer grandiosen Saison ein Triumph im DFB-Pokal. Es wäre die Krönung einer irren Geschichte und die Krönung einer bemerkenswerten Laufbahn von Trainer Christian Streich.
Wenn der SC Freiburg am Abend im Berliner Olympiastadion den größten Triumph seiner Geschichte verpassen würde, wenn der Sportclub das DFB-Pokalfinale gegen RB Leipzig (20 Uhr in der ARD und im Liveticker bei ntv.de) verlieren würde, würde die "Welt auch nicht untergehen", findet Christian Streich. Aber der Trainer, der in dieser ehrwürdigen Arena im Berliner Westend in Endspielen noch unbesiegt ist, ahnt schon, dass sich eine Niederlage sicherlich "scheiße" anfühlen würde.
Die Geschichte dieses Finals, die Geschichte des SC Freiburg, die Geschichte von Christian Streich – sie alle sind einmalig und auf ihre bemerkenswert. Dass RB Leipzig am Ende einer Saison in Berlin zu Gast ist, das ist nicht ungewöhnlich. Zu gigantisch sind die Möglichkeiten dieses Klubs, der in dieser Saison indes zum ersten Mal gravierendere Entwicklungsstörungen nachwies. Auf der letzten Rille schleppte sich der Ost-Gigant in die Champions League – und verhinderte damit ein noch größeres Fußball-Wunder der Freiburger, die sich als Tabellensechster für die Europa League qualifizierten.
Union Berlin, der 1.FC Köln, vielleicht noch der VfL Bochum, aber ganz sicher der Sportclub – das sind die großen Überraschungen der vergangenen Spielzeit. Im Gerangel mit den Riesen aus München und Dortmund sowie den gepäppelten Teams aus Hoffenheim, Wolfsburg, Leverkusen und Leipzig haben sich die Kleinmächte behauptet. Und einen ganz besonderen Platz verdienen sich seit Jahren die Freiburger mit ihrem kauzigen Anleiter an der Seitenlinie, dessen Arbeit so sehr geschätzt wird, dass er einst sogar in die öffentliche Diskussion als Trainer des FC Bayern und der Nationalmannschaft kam. Streich machen solche Debatten meist fassungs- und ratlos. Aber vermutlich schmeicheln sie diesem Typen auch, der so seltsam brillant ist.
Viel gesehen hat er nicht
Man kann wahrlich nicht behaupten, dass Christian Streich in seiner Trainerkarriere sonderlich viel gesehen hätte. In seiner Vita stehen lediglich drei Verantwortlichkeiten: Von 1995 bis 2011 war er Chef der U19 des Sportclubs, parallel dazu Co-Trainer der Profis (2007 bis 2011) und schließlich seit dem 2. Januar 2012 Hauptverantwortlicher. Er übernahm für den glücklosen Marcus Sorg, der sich später als Co-Trainer von Bundestrainer Joachim Löw einen Namen machte. Streich und Löw haben übrigens auch eine gemeinsame Vergangenheit, beide spielten 1987 für die Freiburger in der 2. Liga zusammen. Auch in der Mannschaft: der legendäre Wattenscheider Souleymane Sané.
Während Streich seine aktive Zeit als Spieler weitgehend unter dem Radar verbrachte, wurde er als Coach immer mehr zur Kultfigur, zum Phänomen, zur moralischen Instanz im ganzen Land. Niemand aus dem Fußball prägt die gesellschaftlichen Debatten so mit, wie Streich. Er benennt Dinge deutlich beim Namen, positioniert sich klar. In einer (Fußball)-Welt, die so weichgespült ist, glattgebügelt, die sich darum windet, klar Stellung zu beziehen, ist er ein Unikat. Er scheut sich nicht davor, die AfD für seltsame und gefährliche Ansichten zu kritisieren, er verteidigt Kollegen gegen harte Attacken, er hält flammende Plädoyers fürs Impfen und unterstützt die Fridays-for-Future-Bewegung im Kampf für eine nachhaltige Welt.
Und so bemerkenswert der 56-Jährige als Typ ist, so bemerkenswert ist auch seine Arbeit in Freiburg. Streich ist, wenn man so will, der erfolgreichste Entwicklungshelfer der Bundesliga. Er hat aus jungen Talenten begehrte Profis gemacht. Jüngster Beleg: Nico Schlotterbeck. Der Innenverteidiger wechselt zur kommenden Saison für rund 20 Millionen Euro zu Borussia Dortmund. Andere Beispiele: Matthias Ginter, Luca Waldschmidt, Maximilian Philipp oder Caglar Söyüncü, der mittlerweile zu den teuersten Innenverteidigern der Premier League zählt. Nicht alle fanden indes außerhalb von Freiburg ihr Glück.
Ein ausgeklügeltes Transfersystem
Während viele Spieler von Freiburg in die Welt zogen, hat der Klub eine ganz eigene Transferstrategie entwickelt. Sie fußt auf der eigenen Jugend, dort drängen derzeit Talente wie Yannik Keitel und Kevin Schade in die erste Elf – und irgendwann vielleicht auch zu den großen Klubs. Sie fußt allerdings auch darauf, Potenziale bei Spielern aus der 2. Liga oder den kleineren Ligen im Ausland zu erkennen, die Spieler für kleine(re)s Geld zu verpflichten und gewinnbringend zu entwickeln, wie etwa Lucas Höler. Der umtriebige Stürmer kam im Januar 2018 vom SV Sandhausen, ging einen bemerkenswerten Weg, wurde zum Schreck des FC Bayern und rückte in der öffentlichen Debatte sogar ans DFB-Team heran.
In Freiburg gibt es viele Geschichten, die man sich so fußballromantisch erzählt wie die des Stürmers. Wer zum Sportclub wechselt, der weiß: Mit Christian Streich bekommt man einen Coach, der fordert, aber auch fördert. Allüren lässt er nicht durchgehen, er setzt auf Bereitschaft und Lernwilligkeit. Und er bekommt dafür das uneingeschränkte Vertrauen seiner Bosse. Die gingen mit ihm 2015 ohne jede Diskussion in die 2. Liga. Auch etwas, das es im Fußball so kaum bis gar nicht mehr gibt. Allein in den vergangenen Wochen gab es regelmäßig Panikattacken in bedrohten Klubs oder den Laufpass nach tiefgreifenden Saisonanalysen. Beim SC dürfen sie für sich verbuchen, alles richtig gemacht zu haben.
Sie nehmen auch mal Geld in die Hand
Die Kontinuität auf der Trainerposition hat mittlerweile auch eine gigantische Anziehungskraft. Denn längst ist nicht ausgemacht, dass Leistungsträger den Klub verlassen. Nur, wenn sie mit ihrem Talent zu groß geworden sind. Wie nun eben Schlotterbeck. Ein Christian Günter dagegen, immer noch ein Fußballer, der in der Nähe der Nationalmannschaft lungert, ist nie einem Lockruf erlegen. Andere wie Vincenzo Grifo kehrten zurück, weil sie woanders nicht klarkamen. Freiburg ließ sich solche Transfers auch mal was kosten. Sechs, sieben, acht Millionen Euro – mächtige Summe für den Klub, lächerliche im internationalen Vergleich.
Nun kommt es zum Showdown: Kultklub gegen Kapitalismus-Giganten. Für beide Vereine geht es um den ersten großen Titel. Die Freiburger wurden bisher vier Mal Zweitligameister und haben zweimal den Südbaden-Pokal gewonnen, Leipzig blickt auf eine Regionalliga-Meisterschaft und zwei Triumphe im Sachsenpokal zurück. Bemerkenswerter ist die Vita von Streich. Er ist bereits dreifacher Pokalsieger und einmal Meister geworden. Jeweils mit der U19 allerdings. Auch mit dieser Geschichte erlebte dieser authentische Typ mit dem ausgeprägten Dialekt in Berlin ein Dé·jà-vu. Mit Christian Günter, Nicolas Höfler und Jonathan Schmid stehen drei Eigengewächse im Finalkader, die allesamt bereits bei den Junioren den Pokal gewannen - mit Streich.
Quelle: ntv.de