Müller steckt ein und teilt aus Das seltsame Wackeln der Wut-Bayern
01.11.2021, 09:39 Uhr
Glücksmensch.
(Foto: REUTERS)
So kann man seine Wut mal entladen: Der FC Bayern trumpft wieder auf. Fünf Tore, diesmal aber im gegnerischen Netz. Der immer noch abwesende Cheftrainer ist zufrieden. Die unerklärliche Pokal-Schmach bei Borussia Mönchengladbach wirkt aber noch nach.
An der "Alten Försterei" in Berlin-Köpenick haben sich in den vergangenen Jahren erstaunliche Dinge ereignet. Das hat vor allem mit dem Fußball-Klub 1. FC Union zu tun. Die haben erst jahrelang an die Pforte zur 1. Liga geklopft, manchmal taten sie das ziemlich verzweifelt, und als sie erst mal den Kreis der Erlauchten erstürmt hatten, als sie an der Tafelrunde der Besten Platz genommen hatten, da war die Liga plötzlich eine andere. Denn der Aufsteiger mischt die Bande bereits die dritte Saison in Folge auf. Und es hätte an diesem Wochenende nicht sonderlich viel gefehlt, dann hätten die Eisernen den großen FC Bayern in eine mittelschwere Krise gestürzt. Das geht in München immer etwas schneller als an den meisten Fußball-Standorten in Deutschland.
Das liegt auch daran, dass die Fallhöhe eine ganz besondere ist. Während andere Mannschaften auch nach zwei Niederlagen nacheinander meistens noch gut schlafen können, ist das beim Rekordmeister ganz anders. Wäre die Bundesligapartie am Samstag nach dem Pokal-Horror der vergangenen Woche (0:5 bei Borussia Mönchengladbach) auch noch verloren gegangen, dann wäre es nicht nur um die Küche von Trainer Julian Nagelsmann schlecht bestellt gewesen. Der junge Mann hat zwischen Herd und Spülmaschine das wohl größte und modernste Coaching-Homeoffice der Fußballwelt erbaut. Er musste das tun, weil ihn das Coronavirus erwischt hat. Obwohl er den vollen Impfschutz hat. Diese Information ist wichtig, ganz besonders, wenn man in diesen Tagen über den FC Bayern schreibt.
Nun weiß man aber, dass die Münchner die mittelschwere Krise abgewendet haben. Denn in Berlin gab es einen 5:2-Erfolg. Das klingt fantastisch. Das klingt furios. Das klingt nach jeder Menge Spaß und ein kleines bisschen nach Sorglosigkeit. Aber was will man einem himmelsstürmenden Team schon vorwerfen? Einfach mal den Frust in gnadenlose Offensive verpacken, das kann doch nicht verkehrt sein, oder? Tja, diese Frage beschäftigt wohl alle, die sich mit dem FC Bayern beschäftigen. Denn dieses erstaunliche Spiel an der "Alten Försterei" lässt einen ein wenig begeistert, aber auch ein wenig ratlos zurück. Denn dieses Spiel wirkte die letzte Stunde alles andere als Bayern-souverän, es wirkte stets wackelig.
Über die Abwehr wird weiter diskutiert
Über das Wackeln der Nagelsmänner war ja zuletzt ausführlich berichtet worden. Nicht erst seit dem Debakel von Gladbach wird in den hiesigen Runden mit den hiesigen Experten darüber philosophiert, ob die Münchner gerade in der Abwehr in dieser Saison nicht doch deutlich schwächer besetzt sind als in den vergangenen Spielzeiten. Da waren noch Leute wie David Alaba und Jérôme Boateng unter Vertrag. Über Nationalspieler Niklas Süle erzählt man sich mal, dass er wirklich eine tolle Serie spielt, dann wundert man sich über seine Schläfrigkeit im Duell. Bei Lucas Hernández erfreut man sich an der Härte und Souveränität im Duell, aber fragt sich, wann endlich der mächtige Schritt zum mächtigen Abwehrchef erfolgt. Und dann ist da noch Dayot Upamecano. Dessen Mangel an Beständigkeit ist das größte Thema. Man erinnert dann gerne an den jungen Boateng, der war schließlich auch erst ein heldenhafter Luftikus, ehe er einer der besten Kanten Europas wurde. Nun ist Upamecano schon 23 Jahre alt. Das ist zwar immer noch jung, für einen Fußballer aber auch schon alt. Ein Talent ist man mit 19. Und so mahnte auch Nagelsmann vor der Partie nochmal an, dass sein potenzieller Abwehrchef im Duell manchmal ein taktisch reiferes Verhalten zeigen müsse.
Es ist schon bemerkenswert, wie schnell sich die Situation beim Rekordmeister ändert. Noch bevor es zur Schmach im Borussia-Park am Mittwoch gekommen war, war die Lage mindestens rosarot. Über kaum etwas anderes wurde gesprochen als über diese Dominanz-Jungens aus dem Süden. Und diese Erzählungen kannten viele Helden. Den Trainer natürlich, der in seinem Rausch bereits wild über die digitale Revolution des Fußballs sinnierte. Womöglich besonders, wenn er mit seinem futuristischen E-Skateboard über den Münchner Rekordcampus surfte. Leroy Sané war auch ein Held. Und Joshua Kimmich sowieso. Der aber ist gefallen (als Held), weil er nicht gegen Corona geimpft ist. Aus allen Richtungen erreichen ihn Botschaften. Applaus von den Rechten und "Querdenkern". Attacken von Bayern-Legenden wie Paul Breitner, von Gesundheitsexperten und von Menschen ohne Expertise. Aber das sind ja meistens eh die, die am lautesten bellen. Bemerkenswerte Worte kamen derweil von der neuen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, es waren versöhnende Sätze mit Herzenswärme.
Womöglich hatte die Debatte um den deutschen Fußballhelden den Klub und die Mannschaft doch mehr beschäftigt, als man zugeben wollte. Womöglich war man damit beschäftigt, wer dieses extrem sensible Detail an die "Bild"-Zeitung durchgestochen hatte. Kam es aus dem Kreis der Mannschaft? Wenn ja, dann hätte der Verein ein verdammt großes Problem. Aber noch weiß man es ja nicht.
Eine brutale Show in 35 Minuten
Nun, an der "Alten Försterei" hatte man 35 Minuten lang das Gefühl, dass der FC Bayern all die Last der vergangenen Tage abgeschüttelt hatte. Denn neben Kimmich war da ja auch die auf dem letzten Meter abgewendete, drohende Haftstrafe für Abwehrmann Hernández. So viel Stress und Druck, das muss man erstmal aushalten. Und man durfte durchaus die Frage stellen: Wie viel Stress und Druck kann so eine Mannschaft aushalten, selbst wenn sie die des FC Bayern ist? Dort kennt man das ja. Aber eben nicht auf diese Weise. Nicht in dieser Intensität. Union Berlin wurde in der ersten halben Stunde brutal hergespielt, deren Trainer Urs Fischer nahm nach gut 20 Minuten die Brille ab und rieb sich die Augen. Das sah verdammt nach Desaster aus. Robert Lewandowski hatte zweimal getroffen. Und in das 2:0, einen direkten Freistoß von der Strafraumkante, hatte er all seine Wut gepackt. Ein paar Minuten später erhöhte Sané auf 3:0. Alles im Griff auf dem doch nicht sinkenden Schiff.
Aber plötzlich kippte das Spiel. Zwei Minuten vor der Pause hatte Nico Gießelmann auf 1:3 verkürzt. Eine Minute später traf Sheraldo Becker, er stand aber knapp im Abseits. Die Hütte in Köpenick fing aber nun richtig Feuer. Und die Bayern wackelten. Die entdeckten den Lämmerschwanz im Fuß. Für 15 Minuten ging nichts mehr, drei Riesengelegenheiten ließen die Gastgeber aus, auch weil Manuel Neuer noch immer Manuel Neuer ist. Muss man auch mal (wieder) erwähnen. Von einer "extremen Wucht" der Berliner sprach Co-Trainer Dino Toppmöller. "Wir haben uns dann auf ihr Spiel eingelassen und nicht mehr die innere Ruhe gefunden", kritisierte Thomas Müller, es sei das typische Union-Gesicht gewesen. "Die geben nie auf."
Dieses kuriose Zittern beendete schließlich Kingsley Coman. Der Mann, dessen Zukunft in München wegen stressender Vertragsverhandlungen unklar ist, schweißte den Ball bei einem Umschaltangriff so humorlos in den Winkel der kurzen Torecke, dass die "Alte Försterei" für einen Moment einfror. Julian Ryerson taute das Auditorium zwar nochmal auf, aber zum Wunder reichte es nicht mehr.
"Wir haben den Schmerz gespürt"
Diese Fünf-Tore-Botschaft an die Konkurrenz war unmissverständlich. Der FC Bayern hat die Demütigung von Gladbach erstmal weggesteckt, vergessen ist sie aber nicht. "Wir haben nicht nur ein Spiel verloren, sondern einen Wettbewerb, der uns viel bedeutet in der Saison", betonte Müller, der sein Team ständig antrieb und den finalen Treffer erzielte: "Dementsprechend müssen wir weiter damit umgehen." Die Unioner bekamen also zu spüren, was das bedeuten kann. Andere werden folgen. "Wir haben den Druck gespürt, wir haben den Schmerz gespürt, aber wir haben heute geliefert", schrieb Müller später bei Instagram.
Zuvor hatte er noch eine kleine, aber unverhohlene Kritik an den Berichten nach der Schmach geäußert: "Wenn der FC Bayern mit 0:5 krachend aus dem Pokal rausfliegt, ist es klar, dass der ein oder andere Spruch kommt, der leicht unter der Gürtellinie ist. Das ist für mich okay, wir sind alle nicht aus Zucker", sagte Müller bei Sky: "Man muss das auch mal einstecken können." Um danach wieder auszuteilen.
Quelle: ntv.de