De-Ligt-Schock, Blamage, BVB Die bitterste Bayern-Woche, seit Tuchel Trainer ist
02.11.2023, 05:04 Uhr
Thomas Tuchel (l.) hat nun zwei seiner drei DFB-Pokalspiele als Bayern-Trainer verloren. Eine deprimierende Bilanz.
(Foto: IMAGO/Passion2Press)
Der DFB-Pokal wird für den FC Bayern zum Alptraumwettbewerb. Wieder einmal fliegen die Münchner viel zu früh raus - gemessen an ihren eigenen Ansprüchen. In Saarbrücken erlebt die Mannschaft von Thomas Tuchel ein Drama, das niemand mehr für möglich gehalten hatte.
Rüdiger Ziehl, der fassungslose Trainer des 1. FC Saarbrücken, sprach nach der Sensation im DFB-Pokal aus, was jeder im Ludwigsparkstadion sehen konnte. "In der Verlängerung hätten wir dieses Spiel verloren", gestand er. Also musste ein anderer Plan her. Der war sehr gut und ganz simpel: einfach nochmal nach vorne rennen, den Ball in die Mitte schlagen und dann auf den Fußballgott hoffen.
Der hatte sich am Mittwochabend um 22.41 in die Füße von Marcel Gaus geschlichen - Tor, 2:1, Sensation. Der FC Bayern war in der 96. Minute beim mutigen Drittligisten kollabiert. Wieder einmal wird der Titel ohne Beteiligung des Rekordpokalsiegers ausgespielt - und auch ohne den Titelverteidiger. RB Leipzig hatte sich bereits am Dienstag in Wolfsburg verabschiedet.

Die Bayern-Spieler Manuel Neuer, Minjae Kim und Kingsley Coman mit hängenden Köpfen. Im Hintergrund feiern die Saarbrücker den 34-jährigen Siegtorschützen Marcel Gaus.
(Foto: IMAGO/Jan Huebner)
Nach dem Exodus der Bundesligisten stehen nur noch sechs Vertreter des Oberhauses im Achtelfinale - so wenig wie zuletzt 1992/93. Vor 31 Saisons waren aus der Belletage nur Werder Bremen, Borussia Dortmund, Eintracht Frankfurt, der Karlsruher SC, der 1. FC Nürnberg und Bayer Leverkusen in der Runde der besten 16 vertreten. Die gegen den SV Sandhausen 85 Minuten wankende Werkself (dann 5:2)- derzeit Tabellenführer - holte sich damals im Endspiel gegen die Amateure von Hertha BSC mit 1:0 ihren bis heute einzigen nationalen Titel.
"Wir waren nicht überheblich"
Doch wie konnte passieren, was nicht möglich schien? Nicht vor dem Spiel und schon längst nicht mehr in der 96. Minute, als Saarbrücken taumelte. Aber wie ein David-Boxer wollten die Saarländer sich dem Schlaggewitter des Goliath nicht ergeben. Der FC Bayern drängte, drückte, verzweifelte. An der vielbeinigen Abwehr, am herausragenden Keeper Tim Schreiber und - auch das ist die Wahrheit - an sich selbst. "Es gibt vielleicht 100 Erklärungen oder keine. Es fühlt sich komisch an", sagte Bayerns völlig konsternierter und nach Worten ringender Trainer Thomas Tuchel in der ARD.

Thomas Müller stellte sich nach dem Spiel den Fans. Die meisten seiner Kollegen verschwanden.
(Foto: IMAGO/Jan Huebner)
Tuchel war nach dem 2:1 durch Gaus auf der Bank zusammengesunken und hatte in einer Übersprungshandlung auf das Tablet seines Co-Trainers geschaut. Er wusste nicht mehr, wie ihm geschah. "Wir waren nicht überheblich und haben es nicht auf die leichte Schulter genommen", beteuerte der Trainer, der nun zwei seiner drei DFB-Pokalspiele mit dem FCB verloren hat. Er fügte an: "Es ist schwer zu erklären, es ist, wie es ist. Wir sind auf der falschen Seite der Pokalsensation. Es ist sehr bitter."
Den letzten Pokalsieg holten die Münchner tatsächlich im Jahr 2020 unter Hansi Flick. Danach folgte unter anderem eine Blamage gegen Holstein Kiel und eine surreale Klatsche bei Borussia Mönchengladbach (0:5). Im letzten Jahr dann das Aus im Viertelfinale, zu Hause gegen den SC Freiburg. "Wir wollten mit aller Macht nach Berlin. Wir sind super enttäuscht. Wir sind heute auf der falschen Seite der Pokalsensationen", sagte Tuchel und räumte ein, dass man besonders in der ersten Halbzeit Probleme gehabt hatte, sich "an die aggressive Spielweise anzupassen". Von Beginn an fehlte es der Mannschaft aus München an Überzeugung und an Selbstverständlichkeit. Aber wo sollte die herkommen? Tuchel hatte auch aus Gründen der Belastungssteuerung eine überraschende Elf aufgeboten: Der vergessene Bouna Sarr verteidigte rechts, Frans Krätzig stand an der Seite von Joshua Kimmich, und vorne wirbelten neben Leroy Sané die Joker Mathys Tel und Thomas Müller.
Große Sorge um de Ligt
Endlich mal wieder ein "Müller-Spiel" also. Und es sollte so ein richtig typisches für ihn werden. Nach 16 Minuten nahm er Maß, traf, 1:0 für den Favoriten, schöne Grüße in die Fankurve der Saarbrücker und ein lächelnder Plausch mit Tuchel. Ein Signal: alles bestens zwischen uns. Über die Jokerrolle der Klub-Ikone war zuletzt sehr viel diskutiert worden. Alles war nun bereitet für einen Abend, wie ihn sich Tuchel erhofft hatte. Stars schonen, Kräfte schonen, seriös auftreten. Doch die Bayern fanden die Schlüssel zu Kontrolle und Torgefahr nicht. Saarbrücken hielt kraftvoll dagegen, spielte die Karte Intensität aus.
Es wurde ein Abend, wie ihn sich Fußballromantiker nicht schöner malen konnten. Ein wankender Riese, ein wilder Zwerg, das ist Pokal. In Zeiten, wo die Schere zwischen den Großklubs und den Kleinen immer gigantischer wird, sind solche Abende heilend. Heilend für die Seelen, die mit Saudi-Arabien, der FIFA und dem Allmächtigen Gianni Infantino nichts anfangen können, anfangen wollen, die den VAR, der erst ab dem Achtelfinale eingesetzt wird, als Belästigung und Emotionskiller begreifen.
Und so glich Saarbrücken noch vor der Pause aus. Minjae Kim spielte Talent Krätzig nicht klug an, der verlor den Ball, Konter, Tor, 1:1. Patrick Sontheimer hatte getroffen. Tuchel kritisierte wieder einmal in dieser Saison, die falsche, zu riskante Entscheidungsfindung seiner Spieler. Der Ausgleich aber war nicht der erste Schock für die Bayern an diesem Abend. Schon nach 22 Minuten hatte Tuchel nicht mehr hinsehen wollen, als sich Innenverteidiger Matthijs de Ligt am Knie verletzt hatte.
Der Niederländer war bei einem Zweikampf im Rasen hängengeblieben und musste runter. Für ihn rückte Kimmich in die Viererkette, das hatte er einst einmal unter Starcoach Josep Guardiola gespielt, in der Champions League gegen Juventus Turin. Danach nie wieder. Kimmich also ersetzte de Ligt und war ganz spät, in der 96. Minute, nicht auf der Höhe. Er wurde, wie der Rest der Bayern, von der letzten Wucht des Drittligisten überrollt. Kimmich hat jetzt Pause. In der Liga sitzt er eine Sperre ab.
Hat sich Tuchel mit Kane verzockt?
Mindestens für das Bundesliga-Topspiel bei Borussia Dortmund an diesem Samstag droht auch de Ligt auszufallen. Der 24-Jährige hat eine Verletzung am selben Knie wie vor der Länderspielpause erlitten. "Wieder die gleiche Kapsel, es ist im Moment sehr schmerzhaft. Wir haben noch keine Diagnose", sagte Tuchel, der in dieser Saison schon mehrfach mit personellen Problemen in der Abwehr zu kämpfen hatte und dies zum Unmut seiner Bosse immer wieder zum Thema gemacht hatte, in der ARD. Während der Pressekonferenz nach der Partie ergänzte er: "Wir hoffen, dass es nichts Strukturelles ist." Bis zur Winterpause bleibt es eine wackelige Nummer für Tuchel, dann wird auf dem Transfermarkt nachgelegt. Das wurde ihm höchstinstanzlich versichert, von Ehrenpräsident Uli Hoeneß, der den Trainer vor einigen Tagen noch für dessen forsche Forderungen in den Senkel gestellt hatte. Anderes Thema.
Weil Bayern im Ludwigsparkstadion nicht so richtig da war, rüstete Tuchel doch noch auf. Er brachte nach einer Stunde Jamal Musiala, Kingsley Coman und Serge Gnabry. Nicht aber Harry Kane. Den wollte er sich als Option für die Verlängerung lassen. Hat sich Tuchel verzockt? Vielleicht. Aber auch so kam noch mehr Power, noch mehr Tempo, noch mehr Druck. Aber die Saarbrücker hielten stand, hauten alles rein, schonten ihre Körper nicht. Und sie verloren den Mut nicht, weil sie wussten, dass die Verlängerung für sie die Hölle werden würde. Die Spieler hatten Krämpfe, sie konnten nicht mehr. Die Aussicht auf mindestens 30 Minuten Extrazeit lähmte nicht, sie setzen nochmal Kraft für den finalen Sprint, finalen Konter frei. Niemand konnte es fassen. Nicht mal Ziehl, dem war alles egal. Er erteilte nach der Sensation den Feierbefehl: "Ansonsten wäre ich ja bekloppt."
Erster Titel futsch, womöglich ein weiterer Verletzter und dann noch die erwachsen gewordene Borussia aus Dortmund vor der Brust, ohne den gesperrten Kimmich. Für den FC Bayern hätte diese Woche kaum bitterer laufen können. Es dürfte die bitterste sein, seit Tuchel Trainer des Rekordmeisters ist. Dabei gab es schon einige bittere Wochen für ihn seiner kurzen Amtszeit als Coach des größten deutschen Klubs. "Das Gute ist, dass wir wieder spielen, da gibt es nicht viel nachzudenken", sagte Müller. "Auch wenn es für uns ein brutaler Schlag ist. Wenn Bayern München in Saarbrücken verliert, haben wir mit Sicherheit auch einiges falsch gemacht." Und läuft wieder einmal dem eigenen Anspruch hinterher. Was bemerkenswert war: Müller entschuldigte sich für die Leistung der Mannschaft bei den mitgereisten Fans. Ein härteres Urteil lässt sich kaum fällen.
Quelle: ntv.de