Keine Abwehr ist auch keine Lösung Neuer flucht, Hummels patzt, Löw tobt
15.08.2013, 07:21 Uhr
Joachim Löw, klagend.
(Foto: imago sportfotodienst)
In einem abenteuerlichen Freundschaftskick kassiert die deutsche Fußball-Nationalelf gegen Paraguay drei Tore. Bundestrainer Joachim Löw ist nicht amüsiert. Dabei liebt er doch das Risiko. Nur einer kann sich als Gewinner fühlen.
Tore: 0:1 Nunez (9.), 0:2 Pittoni (13.), 1:2 Gündogan (18.), 2:2 Müller (31.), 2:3 Samudio (45.), 3:3 L. Bender (75.)
Deutschland: Neuer - Lahm, Mertesacker (46. Boateng), Hummels, Schmelzer (81. Jansen)- Khedira, Gündogan (27. Lars Bender) - Müller (81. Schürrle), Özil, Reus (62. Podolski) - Klose (54. Gomez)
Paraguay: Villar (46. Fernandez) - Candia, da Silva, Aguilar, Samudio (54. Melgarejo) - Ayala, Pittoni (62. Romero), Ortiz, Fabbro (62. Rojas) - Nunez (46. Riveros), Santa Cruz (81. Sanabria)
Referee: Bebek Zus.: 47.522 (av)
Vielleicht hätten sie vorher nicht so viel darüber reden sollen. Von wegen Defensive stärken, Balance finden, nicht so viele Tore kassieren. Andererseits: Es lag ja auf der Hand; wusste eh jeder, dass die deutsche Fußballnationalmannschaft spätestens seit Beginn des zweiten Jahrzehnts in diesem 21. Jahrhundert bei aller Brillanz im Spiel nach vorne ihre größte Stärke nicht in der Abwehr hat. Aber ein 3:3 (2:3) gegen die, gemessen am Stand der Qualifikation zur Weltmeisterschaft in Brasilien 2014, schlechteste Mannschaft Südamerikas?
Klar, es war nur ein Testspiel gegen Paraguay. Und so ein Unentschieden tut niemandem weh, zumal die Partie durchaus einen Unterhaltungswert hatte. Fußball ist ja schließlich Teil der Unterhaltungsindustrie. Aber ein bisschen weniger Erlebnis und ein bisschen mehr Ergebnis wäre bisweilen ja doch ganz schön. Und was um Himmels Willen hat die DFB-Elf da auf dem mit 47.500 Zuschauern ausverkauften Betzenberg in Kaiserslautern überhaupt getestet? Wie viele Tore können wir kassieren, ohne das Spiel zu verlieren? Wir dachten, das Thema sei nach dem surrealen 4:4 gegen Schweden längst abgehakt.
Gegen Paraguay ging das, was die deutsche Mannschaft vor allem vor der Pause zeigte, schon arg in Richtung "völlig von der Rolle". Zumindest was das nicht erkennbare Ansinnen betraf, den Gegner daran zu hindern, aus vier Chancen drei Tore zu erzielen. Und auch wenn Joachim Löw ein Mann ist, der es "über alles liebt, offensiv zu spielen" - die Diskussion um die Abwehraussetzer seines Teams wird weitergehen. Oder eben drum. Ach was, sie nimmt jetzt erst richtig Fahrt auf. Der Bundestrainer hatte während des Spiels an der Seitenlinie regelrecht getobt, später war er wieder ruhiger, sagte aber Sachen wie: "Wir haben in der ersten Halbzeit elementare Fehler gemacht." Kein Widerspruch. Und trotzdem nicht vergessen: War nur ein Test. Oder um mit Manuel Neuer zu sprechen: "Es war das erste Spiel der Saison, da läuft noch nicht alles rund." Die deutschen Spieler in der Einzelkritik:
Manuel Neuer: Die Lippenleser der Deutschen Presse-Agentur haben es genau gesehen: "Leck mich am Arsch", soll der Torhüter des FC Bayern nach dem dritten Gegentor geflucht haben. Wir konnten das von der Tribüne aus nicht so genau erkennen, glauben aber gerne, dass er das zumindest gedacht hatte. Der 27 Jahre alte Ex-Schalker war in seinem 39. Länderspiel gut wie meist und bei allen drei Treffern Paraguays machtlos. Von Spielern, so viel Platz muss sein, die Namen tragen wie Gedichte: José Ariel Nunez; Wilson Pittoni; Miguel Samudio. Neuer fands dann aber so toll nicht und sagte hinterher: "Ich denke, dass das heute ein Warnschuss zur rechten Zeit war. So können wir gegen Österreich nicht spielen." Also am 6. September in München, wenn er um Punkte in der WM-Qualifikation geht. Sein Plan bis dahin: "Wir müssen analysieren und korrigieren."
Philipp Lahm: Sein 99. Länderspiel - Schnapszahl! Aber natürlich war dem 29 Jahre alten Kapitän nicht nach Party zumute. Auch weil er, der eigentlich nie richtig schlecht spielt, am rechten Ende der Viererkette nicht so überragte wie zuletzt beim FC Bayern. Zudem war er der Ansicht: Keine Abwehr ist auch keine Lösung. Und versuchte als Diplomat im Trainingsanzug Hoffnung zu vermitteln: "Wenn man vor dem Spiel nur zweimal trainiert hat, ist das schwer. Dass wir in der Defensive noch etwas tun müssen, ist klar. Beim nächsten Mal haben wir wieder mehr Tage zur Vorbereitung." Er war wieder einmal einer Meinung mit dem Bundestrainer. Der nämlich hatte erkannt: "Klar gab es Dinge, die heute nicht gut funktioniert haben." Und versprach: "Die werden wir mit Sicherheit verbessern."
Per Mertesacker: Nach der Pause blieb der 28 Jahre alte Innenverteidiger von Arsenal London in der Kabine, sein 91. Länderspiel war also genau genommen nur ein halbes. Für ihn versuchte Jerome Boateng, 24 Jahre alt, vom FC Bayern sein Glück und kam zu seinem 30. Länderspiel. Vielleicht weil ihm Joachim Löw es mit seiner ruhigen Art eher zutraute, den indisponierten Kollegen Hummels daran zu hindern, noch mehr Unheil anzurichten. Mertesacker war das nicht gelungen, aber immerhin war er als Spezialist für Sicherheitspässe an keinem Gegentor direkt beteiligt. Aber wenn es einen Gewinner an diesem Abend gab, dann war es Boateng.
Mats Hummels: Die gute Nachricht ist: Sein Pass auf Thomas Müller war ebenso lang wie schön - und zudem wichtig, weil der Kollege danach das 2:2 erzielte. Ansonsten aber hatte der 24 Jahre alte Dortmunder bei seinem 25. Einsatz für die DFB-Elf einen gebrauchten Abend. Verschuldete das 0:1 und das 2:3, weil er nicht da stand, wo er hätte stehen sollen. Eher unschön war auch, dass er vor der Partie betont hatte, wie wichtig die Abwehr für ein Spitzenteam sei. "Eine gute Defensive ist vielleicht sogar wichtiger als die Offensive." Vielleicht hätte er nicht so viel darüber reden sollen. Oder nur so, dass es niemand mitkriegt. Oder wie der Lateiner sagt: "Si tacuisses, …" Warum er nicht ausgewechselt wurde, wird wohl für immer das Geheimnis des Bundestrainers bleiben.
Marcel Schmelzer: Das Blöde für den 25 Jahre alten Dortmunder war, dass in seinem zwölften Länderspiel alle drei Gegentore über seine, also die linke Abwehrseite fielen. Auch wenn er nicht alleine dafür verantwortlich war: Eine gelungene Bewerbung um einen Stammplatz sieht anders aus. Bestimmt fängt irgendwann wieder irgendjemand davon an, dass es doch das Beste sei, Käpt'n Lahm würde auf beiden Außenverteidigerpositionen gleichzeitig spielen. Abgesehen davon ist Schmelzer Immer noch kein Flankengott. Neun Minuten vor dem Ende der Partie kam der 27-jährige Hamburger Marcell Jansen für ihn auf den Rasen und zu seinem 40. Länderspiel.
Sami Khedira: Der Mittelfeldspieler von Real Madrid bereitete in seinem ebenfalls 40. Länderspiel den zweiten Treffer der Begegnung prima vor. Dumm für den 26-Jährigen, dass Paraguays Wilson Pittoni der Torschütze war. Ansonsten war ihm anzumerken, dass die Saison in Spanien erst am kommenden Wochenende beginnt. Auf der Position des Sechsers vor der Abwehr zu selten so dynamisch und energisch wie sonst, leistete aber Einiges für einen teilweise sehenswerten Spielaufbau. Aber der ist ja auch nicht das Problem der DFB-Elf.
Ilkay Gündogan: Nach einer knappen halben Stunde musste der erste deutsche Torschütze an diesem Abend angeschlagen raus. Sein Rücken schmerzte, dennoch hängte er sich bis dahin als zweiter Teil der Doppelsechs neben Khedira voll rein - auch weil er im Gegensatz zu Bastian Schweinsteiger kein Blanko-Attest für Freundschaftsspiele hat. Es war für den 22-jährigen Dortmunder der zweite Treffer im achten Spiel. Für ihn kam Leverkusens Lars Bender, der in seinem 15. Einsatz eine Viertelstunde vor Schluss mit einem Volleyschuss Marke "Schnauze voll" für den Ausgleich und damit zumindest für etwas Versöhnung sorgte.
Thomas Müller: Schönes Tor in aller Seelenruhe zum 2:2. Für den 23 Ja hre alten Münchner in seinem 42. Länderspiel der 14. Treffer. Ansonsten nicht sein Sahnetag. Da war er allerdings nicht der Einzige. Hielt sich sehr viel auf seiner rechten Seite im offensiven Mittelfeld auf, was nicht verboten ist, aber auffällig war, weil er doch sonst so gerne die Positionen wechselt. Zeigte sich einsichtig: "Wir wissen, dass in der Defensive manches nicht gepasst hat. Es waren ganz klar unsere Fehler, in der zweiten Halbzeit lief es besser. Das war ein Testspiel, das komisch einzuordnen ist." Für ihn kam nach 81. Minuten der 22 Jahre alte André Schürrle, der inzwischen beim FC Chelsea unter Vertrag steht und nun auf 25 Länderspiele kommt.
Mesut Özil: Es ist ja nie so, dass er sich nicht bemüht. Und offensiv lief es ja gar nicht so schlecht, auch nicht für den 24 Jahre alten Regisseur von Real Madrid. Obwohl er häufiger den Ball verlor, als man das von ihm gewohnt ist. Kam in seinem 47. Länderspiel immerhin mit einem Kurzpass vor dem 1:2 des Kollegen Gündogan zu einem Scorerpunkt.
Marco Reus: Chancentod ist ein fieses Wort, aber der 24-jährige Dortmunder vergab in seinem 16. Länderspiel entgegen seiner sonstigen Gewohnheit einige Möglichkeiten, ein Tor zu erzielen. Möglichkeiten, die er sich allerdings auch selbst erarbeitet hatte, schnell und trickreich wie er ist. Für ihn kam nach 62. Minuten der unverzichtbare Lukas Podolski, 28 Jahre alt, zu seinem 111. Länderspieleinsatz. Schnapszahl, Alaaf!
Miroslav Klose: Ach ja, der Rekord. 35 Jahre ist Miroslav Klose alt, in seinen nun 128 Länderspielen hat er 67 Mal den Ball ins Tor geschossen. Er durfte nach der Pause entgegen der Ankündigung seines Trainers zunächst weitermachen, nachdem er in der ersten Halbzeit den Ball aufs Netz des gegnerischen Tores gelupft hatte. Aber nur kurz. Nach 54 Minuten musste er dann doch für Mario Gomez raus, den das Pfälzer Publikum mit Pfiffen begrüßte. Vielleicht, weil es enttäuscht war, dass ihr Liebling, der Miro, den Müller Gerd immer noch nicht eingeholt hat. Der hat ja bekanntlich 68 Tore erzielt, mehr als jeder andere in der Geschichte des DFB. Nun hätte Klose, der in der Pfalz das Fußballspielen lernte, zwar gerne auf dem Betzenberg getroffen. Aber sei’s drum, das bringt ihn nicht um den Schlaf. Mit der Gelassenheit eines Mannes, der weiß, was er kann, sagte er: "Irgendwann wird der Rekord sowieso fallen."
Quelle: ntv.de