Rätselraten nach Peinlich-Spiel Desaströser VfL Bochum klatscht brutal gegen die Wand
24.05.2024, 07:37 Uhr
Der Wahnsinn in Zahlen.
(Foto: IMAGO/Revierfoto)
Bereits nach dem Hinspiel der Bundesliga-Relegation scheint klar, in welchen Ligen sich die Klubs VfL Bochum und Fortuna Düsseldorf künftig wiederfinden. Nach einem unerklärlichen Debakel ist der VfL fast sicher abgestiegen, die Fortuna jubelt derweil vorsichtig.
Debakel. Desaster. Fiasko. Katastrophe. Horror. Es mangelt in der deutschen Sprache nicht an rhetorischen Möglichkeiten, um zu beschreiben, was der VfL Bochum an diesem Donnerstagabend erlebt hat. Im ersten Relegationsduell um das Spielrecht für die Fußball-Bundesliga im kommenden Jahr geht die Mannschaft vor eigenem Publikum unter. Und wie. Fortuna Düsseldorf, der bemerkenswert gute und selbstbewusste Zweitligist, nimmt einen 3:0-Vorsprung mit in die eigene Arena und kann am Montagabend (20.30 Uhr) alles klarmachen. Dafür braucht es gegen den VfL in dieser Verfassung nicht mal eine gute Leistung. Und was braucht der VfL? Ein Wunder. Mindestens. Eigentlich müsste ein noch mächtigerer Superlativ her, aber den gibt es nicht.
Was war das für eine immense Fallhöhe "anne Castroper": Nach der herben Klatsche bei Werder Bremen am 34. Spieltag, die den Weg in diese Alles-oder-Nichts-Schweineduelle geebnet hatte, hatte es beim VfL geknallt und zwar tüchtig. Manuel Riemann, der höchst emotionale und heftig polarisierende Stammkeeper, der den Verein mit Haut und Haaren verteidigt, dabei aber regelmäßig die Regeln des Anstands deutlich überschreitet, war für die Spiele freigestellt worden. Er konnte sich offenbar nicht mehr mit der gemeinsamen Sache identifizieren, hatte den Glauben an die Mannschaft als Mannschaft verloren. Trainer Heiko Butscher ging mit dieser krassen Entscheidung All-in. Riemann ist nicht nur emotionaler Leader, sondern auch an vielen Tagen ein Top-Keeper mit starken Reflexen und einem überragenden Spielaufbau. Aber er war offenbar auch das "faule Ei" im Nest.
Ein bisschen Glaube ans Wunder
Tore: 0:1 Hofmann (13., Eigentor), 0:2 Klaus (64.), 0:3 Engelhardt (72.)
Bochum: Luthe - Passlack, Ordets, Keven Schlotterbeck, Bernardo - Osterhage (63. Losilla), Bero (80. Daschner) - Asano (62. Broschinski), Stöger, Wittek (71. Antwi-Adjei) - Philipp Hofmann (71. Paciencia). - Trainer: Butscher
Düsseldorf: Kastenmeier - Matthias Zimmermann, Oberdorf, de Wijs, Iyoha - Tanaka - Klaus (87. Niemiec), Engelhardt (87. Uchino), Sobottka (80. Johannesson), Tzolis (87. Appelkamp) - Vermeij (85. Daferner). - Trainer: Thioune
Schiedsrichter: Robert Schröder (Hannover)
Gelbe Karten: Bernardo (10), Losilla (11) -
Zuschauer: 26.000 (ausverkauft)
Bochum setzte darauf, dass die Lösung des "Falls Riemann" frische Kräfte verleiht. Dass die Spieler plötzlich befreit agieren, nicht unter der ständigen Sorge, bei jedem Fehler von hinten zusammengepfiffen zu werden. Doch der Poker ging voll in die Hose. Vertreter Andreas Luthe, der es viel lieber gesehen hätte, wenn er nicht hätte spielen müssen, sondern Riemann im Kasten gestanden hätte, kassierte erst ein "Eiertor" (so Sportboss Patrick Fabian) und ließ später einen Freistoß von Christos Tzolis nach vorne abklatschen. Die Folge: 0:3. Das Gegentor zum vermeintlich sicheren Abstieg. Die Mannschaft war zu großen Teilen gehemmt, manch ein Fußballer nur physisch offiziell anwesend. Noch aber verbieten sie sich das Wort Abstieg und all die Konsequenzen aus- und anzusprechen. Noch reden sie vom Wunder in Bochum, trotz dieses "brutalen Tags für uns alle". Nach langer Überlegung sagte Fabian dann, passenderweise ganz in Schwarz gekleidet, dass er weiter daran glaube. Er appellierte an die Ehre der Spieler, das Wappen des Vereins würdig zu vertreten. Die große Überzeugung, dass das gelingt, vermittelte er dabei nicht.
Aber woher soll sie auch kommen? Fabian überlegt und findet kaum Handfestes zum Anpacken. Dass Düsseldorf es auch geschafft habe, drei Tore hier zu erzielen, ist etwas. Und dass seine Mannschaft (die des VfL) das zuletzt ebenfalls hinbekommen hatte. Etwa gegen Hoffenheim oder Union Berlin. Aber sonst? Nichts. Nichts, wirklich gar nichts an diesem Abend schürte die Hoffnung, dass am Montag alles noch gedreht wird. Die selbstbewusste Brust der Fortunen, die ohnehin schon kaum noch in das rot-weiße Trikot passt, wird noch mehr anschwellen. Die Bochumer werden noch mehr Druck aushalten müssen. Von diesem gierigen, bissigen Gegner. Und durch das drohende, wahrscheinliche Abstiegs-Szenario. Es wäre der siebte Abgang der Vereinsgeschichte.
Mit Anlauf ins krachende Formtief
Die Bochumer müssen sich fragen lassen, wie eine lange eigentlich solide und sorgenfreie Saison noch eine solche dramatische Wendung nehmen konnte. Nach dem 3:2-Sieg gegen den FC Bayern am 22. Spieltag, der hernach Thomas Tuchel stürzte, hatte der VfL neun Zähler (!) Vorsprung auf den Relegationsplatz. Dann ging's bergab ins krachende Formtief. Auch der Wechsel von Thomas Letsch zu Butscher verpuffte schnell. Die Mannschaft wirkt aktuell so instabil wie zuvor noch gar nicht in dieser Spielzeit.
Als das Debakel, das Fiasko, die Katastrophe, ach, als diese Alles-zusammen-90-Minuten abgepfiffen worden waren, traten die Spieler vor die Ostkurve. Erst war es dort erstaunlich leise, wo es zuvor donnernd laut gewesen war. Lauter, als sonst. Dann gab es ein paar wütende Pfiffe, aber auch Anfeuerungen und die unmissverständliche Ansage: "Reißt euch den Arsch auf". So wie es die Spieler vor dem Spiel via Social-Media-Botschaft angekündigt hatte, sie hielten ein selbstgemaltes Banner in die Kamera: "Wir für euch!" Doch in Bochum weiß niemand mehr, was er mit dieser Mannschaft anfangen soll. Mit dieser Mannschaft, die den FC Bayern und den VfB Stuttgart "anne Castroper" leidenschaftlich besiegt hatte. Die die Magie des Ruhrstadions mehrfach beschwor und noch häufiger in der Nachspielzeit kollabiert war. Wäre ein Spiel tatsächlich nach 90 Minuten vorbei, der VfL würde vermutlich kommende Saison europäisch spielen und (wahrscheinlich) nicht nach Elversberg fahren müssen.
Goretzka grölt mit und verzweifelt
Was war das für eine Atmosphäre im Ruhrstadion gewesen? Dröhnend laut, emotional, optimistisch. Die ganze Stadt war bereit, den Klassenerhalt auf der Extrameile zu erkämpfen. Im Bermuda-Dreieck war es übervoll. Der Weg zum Stadion angespannt, aber voller guter Laune. Sommerabend, Flutlicht, Drama. Ein Blockbuster, der die prominenten Söhne der Stadt nach Hause holte. So fieberte Bayern-Star Leon Goretzka im kultigen Faber-Trikot mit und grölte laut, als Herbert Grönemeyer die Zeilen sang "wer wohnt schon in Düsseldorf" und "machst mit 'nem Doppelpass jeden Gegner nass, du und dein VfL!" Später war er verzweifelt. Wie alle Blauweißen. Es war so laut, so stimmungsvoll. Das Stadion hatte Bock. Auch die Gäste, die in großer Zahl da waren und eine Party mit reichlich Pyro im Gästeblock veranstalteten. Was für ein Pulsschlag, der da durch die alten Mauern hämmerte.
Eine Stimmung, wie im Frühsommer 2010. Hannover 96 ist am 34. Spieltag zu Gast "anne Castroper". Ulitmativer Abstiegsshowdown am Ende jener Saison, in der Towart Robert Enke starb. Bochum rennt los wie verrückt, das Stadion steht kurz vor dem Abflug in emotional völlig neue Sphären. In der 9. Minute trifft Arnold Bruggink für die Gäste mit der ersten Chance. Bochum bricht zusammen, verliert 0:3. Geschichte wiederholt sich.
Anpfiff. Düsseldorf lässt den Ball laufen. Nach vier Minuten übernimmt Bochum, schnürt den Gegner im eigenen Strafraum ein. Jeder Ballgewinn, jede Flanke ist ein Zündfunke für die Stimmung. Es kocht. Als Spielmacher Kevin Stöger an der Seitenlinie grätscht und einen verlorenen Ball rettet, droht ein emotionaler Flächenbrand. Das schaut gut aus für den VfL. Nach 13 Minuten Ecke für Düsseldorf. Tzolis sieht, dass Luthe ein wenig zu weit vorne steht und drischt den Ball direkt auf den Kasten. Pfosten, Abpraller, drin, "Eiertor", 0:1. Kurz schütteln, weiter. Ecke Bochum, Bernardo steigt hoch, köpft den Ball an den Innenpfosten (16.). Das Stadion jubelt, ist fassungslos. Weiter. Maximillian Wittek ist durch, trifft - 1:1? Abseits. Der Glaube ist wieder da. Bochum besser, der Ball läuft gut, manch eine Kombination ist rasant, mutig, schließlich ungefährlich. Aber all das wird schnell aufgefressen, von einer Fortuna, die mit gnadenlosem Selbstvertrauen spielt. Stöger schießt noch einen Freistoß knapp am Tor vorbei. Ein letztes offensives Zucken. Alles wirkt durchdacht bei den Gästen. Jeder weiß, was er tut. Die Abwehr steht top, die Außenverteidiger spielen sich clever frei. Der Ball läuft, Ao Tanaka dirigiert überragend. Bochums Pressing läuft ins Leere. Mitte der ersten Halbzeit trifft planlose Leidenschaft auf kühle Klugheit.
Losilla kommt, Fortuna trifft, Momentum weg
Mit jedem Pass, mit jedem Angriff, ziehen die Düsseldorfer das Spiel nun mehr auf ihre Seite. Verschleppen bei Einwürfen das Tempo. Emmanuel Iyoha lässt sich bisweilen arg viel Zeit, die Gastgeber lassen sich provozieren, reagieren, diskutieren. Nur Fußball, den spielen sie nicht mehr. In der Pause legt der Stadion-DJ "Don't stop believin'" von Journey auf. Handys leuchten, kuschelige Konzertatmosphäre. In die Katakomben dringt der Appell von Journey nicht vor. Das Team krampft sich durch die zweite Halbzeit. Mit jeder Minute lässt sich beobachten, wie diese Mannschaft sich immer mehr selbst verliert. Die Fans fordern "Kampf" und "Arsch aufreißen". Dass es am Ende nur 0:3 steht, ist fast noch die beste Nachricht. Luthe rettet dreimal, einmal in Komplizenschaft mit dem Pfosten. Restlos bedient flüchtet der Routinier nach der Debakel-Fiasko-Katastrophe in die Katakomben. Er lässt sich gar nicht mehr beruhigen, rempelt zwei Mitarbeiter aus dem Staff an. Wut hier, Fassungslosigkeit vor der "Ost".
Niemand kann erklären, wie es zu diesem Kontrollverlust kam. Bochum, mal wieder ein Rätsel. Gelaufen sind sie ja. Bemüht haben sich auch. Aber sonst? Kaum ein Plan, außer hohe Bälle aus dem Halbfeld - leichte Beute für die Düsseldorfer Hünen. Manch ein Spieler stand so sehr neben sich, dass er bereits Mitte der ersten Halbzeit qua Leistung um die Auswechslung bettelte. Trainer Butscher reagierte spät, ab der 63. Minute. Unter anderem kam Kapitän Anthony Losilla, der aus sportlichen Gründen zunächst überraschend draußen war. Plötzlich wieder Druck auf den Tribünen, der "Capitano" ist ein Held hier, ein Hoffnungsträger. Doch kaum auf dem Platz, da stand es schon 0:2. Fortuna hatte einen sensationellen Konter über Tzolis und Felix Klaus perfekt zu Ende gespielt.
"Es hört sich jetzt ein bisschen albern an ..."
Coach Daniel Thioune wusste gar nicht mehr, wohin mit seinem Glück. Er sprintete aufs Feld, ging in die Knie und reckte die Fäuste in den Himmel. Als es zehn Minuten später 3:0 für seine Mannschaft stand, Yannik Engelhardt staubte ab, konnte er sich das Lachen nicht mehr verkneifen. Später bemühte er sich um große Contenance: "Die Mannschaft hat Haltung gezeigt und ausgehalten. Die Reise ist noch nicht zu Ende, es war der erste Teil. Ich habe nochmal auf den Gegner verwiesen, der auch schon gute Ergebnisse in der Vergangenheit erzielt hat. Deswegen freuen wir uns, dass wir mit einem kleinen Vorsprung in das Spiel am Montag gehen können." Sie verbieten sich, die Dinge auszusprechen, ehe sie unter Dach und Fach sind. Und reden sich ins Gewissen, seriös zu bleiben. Torwart Florian Kastenmeier erklärte: "Wir haben oft genug erlebt im Fußball, dass ein 3:0 gedreht wird."
Diesen Strohhalm, den letzten, den umklammern auch die Bochumer panisch: "Es hört sich jetzt ein bisschen albern an, aber wenn Düsseldorf hier drei Tore machen kann, wieso sollten wir das nicht schaffen", sagte der bemühte Spielmacher Stöger. "Wir haben als Team heute verkackt. Das hat Bochum nicht verdient", sagt er und verspricht abermals, wie schon nach der Klatsche in Bremen; "Wir werden nicht aufgeben. Wir haben trotzdem den Glauben an uns."
Keven Schlotterbeck, der verzweifelt versuchte, den Laden hinten zusammenzuhalten, sagte: "Kopf hoch – heute hast du so eine Schelle bekommen, dass du im Endeffekt am Montag alles oder nichts spielen kannst. Entweder fährst du mit 0:6 nach Hause oder du versuchst, das Ding noch irgendwie zu drehen." Der Glaube daran ist im Umfeld längst verloren. Der Spaß an diesem VfL ebenfalls. In einer Strandbar hinter dem Stadion sagt einer: "Die Beerdigung meines Schwiegervaters war lustiger, 87 Jahre alt, schwer krank, keine Hoffnung mehr."
Quelle: ntv.de