Märchen, Drama und DFB-Debüt Gosens ist heute Löws spannendster Spieler
03.09.2020, 07:08 Uhr
Robin Gosens will nach einem starken Jahr bei Atalanta Bergamo auch Bundestrainer Jogi Löw überzeugen.
(Foto: imago images/Sportfoto Rudel)
Robin Gosens legt mit Atalanta Bergamo eine märchenhafte Saison hin. Dann trifft die Corona-Krise Region, Klub und Spieler äußerst hart. Aber der DFB-Neuling geht offen mit seinen Stärken und Ängsten um und überzeugt den Bundestrainer. Löw braucht ihn unbedingt für den EM-Titel.
Nach 26 Minuten liegt seine Mannschaft bereits mit 0:2 hinten, dann reißt Robin Gosens die Partie herum. Eine weite Flanke von der rechten Eckfahne segelt in den Strafraum von Spal Ferrara, es scheint, als könnten die Verteidiger den hohen Ball einfach klären. Aber aus dem Rücken der Abwehr rauscht Atalanta Bergamos Nummer acht heran. Der Deutsche überrennt und -springt alle und wuchtet die Kugel zum Anschlusstreffer ins Netz. Bergamo dreht die erste Partie der Saison und gewinnt 3:2.
Gosens verhinderte Atalantas Fehlstart in die Serie A. Es war der Beginn für ein starkes Jahr, vor dem nur ausgemachte Kenner des italienischen Fußballs von dem gebürtigen Emmericher gehört hatten. Gefährlich mit dem Kopf und stabil in der Defensive, trifft der Linksfuß auch mit beiden Füßen und sammelte neun Tore und acht Vorlagen in 34 Spielen. Eine klare Steigerung zum Vorjahr, in dem ihm drei Treffer und zwei Assists gelangen. Der Shootingstar der italienischen Liga schaffte es dank seiner Top-Leistungen ins Visier von Bundestrainer Joachim Löw, der ihn nicht nur als Option für die Startelf links hinten in der Partie gegen Spanien (20.45 Uhr/ZDF und im Liveticker bei ntv.de), sondern auch für die Europameisterschaft im nächsten Sommer (11. Juni bis 11. Juli) sieht.

Der Lückenschließer: Gosens könnte die Planstelle auf der linken Abwehrseite besetzen.
(Foto: imago images/Sportfoto Rudel)
Bergamos Fußballmannschaft wird "La Dea" gerufen - die Göttin. Und Atalanta brachte 2019/20 ein wahrlich göttliches Märchen auf den Rasen. Das Team von Gian Piero Gasperini spielte einen atemberaubenden Angriffsfußball mit aggressivem Gegenpressing, der zu 98 und damit den meisten Serie-A-Toren führte. Inter folgte mit 81 Treffern, Meister Juventus Turin erzielte gar nur 76. In der Seria A wurde "La Dea" Dritter mit nur fünf Punkten Rückstand auf Platz eins. In der Champions League fehlte der Mannschaft nur eine Minute, um ins Halbfinale einzuziehen, bevor Paris St. Germain zweimal eiskalt zuschlug. Er war ein Märchen ohne große Namen und ohne Scheich-Milliarden, das es im modernen Fußball eigentlich gar nicht mehr geben kann.
"Wenn er auf das Gaspedal drückt ..."
Und mittendrin: Robin Gosens. In Deutschland wollte dem Fußballer nie der Durchbruch gelingen, kein Bundesligaspiel absolvierte der 26-Jährige. Nach einem gescheiterten Probetraining bei Borussia Dortmund zog es ihn mit 17 Jahren in die Niederlande, aus denen sein Vater stammt. In Arnheim förderte ihn der heutige Leverkusen-Coach Peter Bosz, der Vitesse in der Saison 2013/14 trainierte. Er stellte den damaligen Mittelfeldspieler auf die linke Abwehrseite: ein Schachzug mit weitreichenden Folgen.
Vor allem Löw könnte nun von dem Positionswechsel profitieren. Denn die linke Abwehrseite ist wieder mal eine Schwachstelle in der Nationalmannschaft und könnte das große Ziel des jungen und hungrigen Teams, den Gewinn des EM-Titels, erschweren: Nico Schulz spielt beim BVB keine Rolle mehr und dürfte auch im DFB-Dress trotz Nominierung kurzfristig keine Stütze werden, auch weil er nun mit einer Wadenverletzung ausfällt; der Kölner Jonas Hector, von 2015 bis 2018 Stammspieler, ist zu langsam und wenig dynamisch für die DFB-Elf und wurde nicht berufen; RB Leipzigs Marcel Halstenberg wird in diesen Länderspielen geschont, aber hat seine internationale Klasse noch nicht wirklich nachhaltig unter Beweis gestellt; und Philipp Max vom FC Augsburg (jetzt PSV Eindhoven) bekam nie eine Chance.
"Für mich spricht vielleicht das Gesamtpaket. Ich habe die Qualität, die ganze linke Seite zu übernehmen, dass ich offensiv wie defensiv einen Wert habe", sagte Gosens im "Kicker". Der Bundestrainer weiß um die Lücke in seinem Team auf einer der wichtigsten Positionen des modernen Fußballs. Jürgen Klopp bewies mit Trent Alexander-Arnold und Andrew Robertson beim FC Liverpool über die vergangenen zwei Jahre, wie ausschlaggebend Außenverteidiger sind und was sie ausmachen muss: Schnelligkeit, Aggressivität, Dynamik. Gosens bringt all das mit. "Er achtet sehr auf die Verteidigung. Doch wenn er auf das Gaspedal drückt, ist er nur schwer zu bremsen", schrieb die italienische Tageszeitung "Corriere dello Sport". Auf der ganz großen Bühne muss der Deutsche sich noch beweisen. Löw will ihm diese Chance schnellstmöglich geben, damit er sich mit der DFB-Elf einspielen kann, und plante schon mit dem Linksverteidiger im Frühling gegen Italien. Aber die Corona-Krise kam dazwischen.
"An Traurigkeit nicht zu überbieten"
Das Debüt gegen seine Wahlheimat wäre doppelt besonders gewesen. Gosens gab zu, sich über die Absage des Spiels damals geärgert zu haben. Nachdem er die niederländische Schule mit Ballkontrolle, Viererkette und Ballbesitz durchgemacht hatte, zog es den Linksverteidiger nach 2017 nach Italien. Anfangs spielte er bei Bergamo wenig und gab zu, Selbstzweifel gehabt zu haben: Bin ich gut genug? Über seine Ängste und Zweifel erzählt Gosens frei, das ist selten im Fußballgeschäft - und dürfte Löw bestärkt haben, diesen mündigen und reflektierten Spieler in den Kader holen. Gosens legte bei Atalanta Einzelschichten ein, boxte sich durch und schaffte es 2018 in die Startelf.
Der Werdegang des Shootingstars beeindruckte nicht nur den Bundestrainer. Gosens gilt seit Längerem als Anwärter für einen Sommer-Transfer und damit einen Abgang aus Bergamo. Schließlich könnten die Lombarden bei einem Wechsel 30 Millionen Euro Ablöse generieren. Inter Mailand, Juventus Turin und der FC Chelsea sollen interessiert sein. Auch in diesem Fall sprach der Linksverteidiger, der schon öfter die Business-Seite des Fußballs kritisiert hat, so offen, wie man es selten von Profis hört. "Wenn ich das schon höre, über 30 Millionen Euro für so einen Robin Gosens, dann wird mir wirklich schlecht. Mein lieber Scholli. Da habe ich Schwierigkeiten, das zu begreifen", sagte er im Interview mit Dazn, Spox und Goal.
Reflektiert und ehrlich zeigte sich Gosens vor allem, nachdem das Atalanta-Märchen jäh von einem nie dagewesenen Drama überschattet und unterbrochen wurde. Das Achtelfinalhinspiel der Champions League zwischen Bergamo und dem FC Valencia am 19. Februar wurde vor Ort als "Partita Zero", als "Spiel Null" für die in der Region kurz darauf ausbrechende Corona-Epidemie angesehen. Ein Drittel Bergamos Bevölkerung soll beim 4:1 im Stadion gewesen sein, der Rest schaute beim Public Viewing, im Anschluss gab es rauschende Feste auf den Straßen und in den Häusern.
Die römische Zeitung "La Repubblica" schrieb von der "Explosion der Ansteckungen", der "Corriere della Sera" aus Mailand von der "biologischen Bombe". Bewiesen ist die Schlussfolgerung zwar nicht, aber zwei Wochen nach der Partie explodierten die Fallzahlen in der Bergamo. "Man macht sich schon einen Kopf, ob das Spiel der Auslöser war für den schlimmen Zustand, der jetzt bei uns herrscht", gab sich Gosens im Anschluss in einer ZDF-Reportage nachdenklich. "Es ist an Traurigkeit nicht zu überbieten, was hier passiert. Man kämpft gegen Downs und sagt sich: Hoffentlich passiert das nicht mir oder meiner Familie."
Mit Gosens zum EM-Titel?
Bergamo wurde zum Epizentrum der Epidemie, hunderte Menschen starben täglich. Acht Wochen mussten alle Bewohner in Hausquarantäne. Auch Gosens. Er reifte menschlich in der Corona-Auszeit und beschrieb die Zeit als "sehr prägend, sehr intensiv und sau schwierig". Der DFB-Neuling gab zu: "Wenn man die Menschen hier wegsterben sieht, bekommt man natürlich auch eine reelle Angst." Als sich die Lage besserte, durften er und sein Team der fußballverrückten Stadt wieder ein paar schöne Momente bescheren. Gosens würde in der nächsten Saison gerne noch weitere folgen lassen, könnte aber auch einen Verkauf verstehen bei den Unsummen, die für ihn geboten werden. Von der Bundesliga träumt der Schalke-Fan ohnehin noch.
Jetzt steht aber erstmal sein Debüt in der Nationalmannschaft an. Löw lobte, dass Gosens "über den Fußball hinaus" denkt und entschied sich nicht nur wegen dessen spielerischer Fähigkeiten und Arbeiter-Mentalität für den Legionär. Sondern auch, weil er mit seiner auf dem Boden gebliebenen Art ganz ohne Allüren und seinen reflektierten und authentischen Worten wichtige Faktoren in die junge DFB-Elf trägt. Vielleicht bis zum EM-Titel.
Quelle: ntv.de