Memmert verteidigt Bayern-Taktik Guardiolas Mut wird nicht belohnt
07.05.2015, 14:50 Uhr
Das taktische Konzept von Bayern-Trainer Josep Guardiola gegen den FC Barcelona war richtig.
(Foto: imago/Jan Huebner)
Bayern München wird nach der 0:3-Pleite gegen den FC Barcelona hart kritisiert. Zu Unrecht, findet Taktikexperte Professor Daniel Memmert. Der n-tv.de-Kolumnist erklärt, weshalb Guardiola seine Elf mutig und klug eingestellt hat.
Drei zu null! Das Ergebnis im Hinspiel des Champions-League-Halbfinales suggeriert totales Versagen des FC Bayern München gegen einen komplett überlegenen FC Barcelona. Stattdessen haben die Bayern aus meiner Sicht bei der besten Mannschaft der Welt mit dem besten Sturm der Welt über weite Strecken ein richtig starkes Auswärtsspiel absolviert. Das Niveau der Partie war extrem hoch. Hinsichtlich Tempo, taktischer Flexibilität, Passqualität, Zweikampfführung, Pressing und Gegenpressing, "Give and Go" und Entscheidungen unter Druck war dieses Spiel das vorgezogene Finale in der Champions League. Leider hat sich der FCB dafür aufgrund des Einbruchs in der letzten Viertelstunde nicht belohnt.

Professor Daniel Memmert lobt Guardiola für sein mutiges Taktik-Konzept.
(Foto: picture alliance / dpa)
Im Vorfeld schrieben viele Experten, dass der FC Bayern München in Barcelona als eine Art Kopie von Borussia Dortmund auftreten und probieren würde, hinten dicht zu stehen und dann schnell nach vorn zu kontern. Genau das war nicht der Fall. Stattdessen hat Bayern München versucht, so häufig wie möglich Ballbesitz zu wahren. Mit dieser Herangehensweise hat Pep Guardiola Mut bewiesen und seine Vorteile als intimer Kenner des Spiels des FC Barcelona ausgenutzt.
Denn der Bayern-Trainer weiß, dass man Barcelona im sogenannten Drei-Viertel-Bereich stören muss. Das ist die Zone zwischen der Mittellinie und etwa 30 Metern vor dem Tor von Bayern München. Vor allem in diesem Ausschnitt des Spielfeldes zieht Barcelona sein berühmtes Tiki-Taka auf, von dem dann die entscheidenden Pässe auf die vorderste Reihe ausgehen. Dieses Revier muss man beherrschen, um Barcelonas Wirbel einzudämmen.
Professor Daniel Memmert leitet das Institut für Kognitions- und Sportspielforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen im Bereich der Sportspielforschung, hier geht es um Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Kreativität, Spielintelligenz und Motivation. Er besitzt Trainerlizenzen in den Sportarten Fußball, Tennis, Snowboard sowie Ski-Alpin und ist Herausgeber und Autor von Lehrbüchern zu modernem Fußballtraining. Seine neueste, populärwissenschaftliche Veröffentlichung - gemeinsam mit Bernd Strauss und Daniel Theweleit - heißt: "Der Fußball. Die Wahrheit. Fußballspiele werden im Kopf entschieden".
Unter Trainer Luis Enrique agiert Barcelona im Spiel nach vorn noch einen Tick früher vertikal. Einst diente die Ballzirkulation von Messi & Co. auch dazu, den Gegner zu ermüden. Nun versucht Barca, etwas zielorientierter vor das gegnerische Tor zu kommen. Das heißt jedoch nicht, dass die "Blaugrana" plötzlich den Konterfußball entdeckt hätte, was überall geschrieben wurde. Das Gegenteil ist der Fall. Barcelona hat bereits vor einigen Jahren das Umschaltspiel ebenso wie das Jagen des Balles neu definiert. Daran hat sich kaum etwas geändert.
Pep Guardiolas Gedanke, mit einem 3-4-3-System zu beginnen, war also grundsätzlich schlau und mutig, um eine Überzahl in dieser spielentscheidenden Zone herzustellen, die Ballzirkulation einzudämmen und antizipativ arbeiten zu können. Gleichzeitig hat Bayern versucht, extrem hoch zu verteidigen; anfangs stand die Dreierkette teilweise an der Mittellinie. Barcelonas Torhüter Marc-André ter Stegen sollte in dieser Phase früh attackiert werden. Eine so mutige Taktik hätte Bayern München im Vorfeld kaum einer zugetraut.
Frühe Umstellung ist ein Zeichen von Stärke
Nach einer knappen Viertelstunde die nächste mutige Entscheidung von Guardiola: Plan A hatte nicht funktioniert wie gewünscht, also musste er etwas verändern. Dies ist ein Zeichen von Stärke, nicht von Schwäche. Er hat die Situation, dass Barcelona den Ball etwas weniger zirkulieren lässt und zielstrebiger den Weg in die Spitze sucht, genial schnell erkannt und sofort auf eine Viererkette umgestellt. Seit dieser Umstellung hatte Bayern München das Spiel bis zur 77. Minute viel besser unter Kontrolle als zuvor. Der Zugriff im Mittelfeld war dadurch deutlich effektiver. Zwar hatte Barcelona die besseren Chancen, doch das ist bei einem Auswärtsspiel im Nou Camp kaum anders zu erwarten.
Der gefühlte Vorteil von Barcelona hat hauptsächlich mit Vorteilen der Gastgeber in Eins-gegen-Eins-Situationen zu tun. Lionel Messi ist auch gegen wendige Spieler wie Philipp Lahm immer in der Lage, seine ersten Gegner aussteigen zu lassen. Das ist eine Qualität, die Bayern München ohne Arjen Robben und Franck Ribéry nicht auf den Platz bringen konnte. Als gesamtes Team jedoch hat der FC Bayern München im Rahmen der personellen Voraussetzungen jedoch auf Top-Level agiert.
Bis zum 1:0 haben sich die Bayern-Abwehr und Torhüter Manuel Neuer sehr gut gegen die immer wieder extrem hoch anlaufenden Barca-Spieler behauptet und spielerische Lösungen gefunden. Dies war gewollt, mutig und nicht selten konnten sich die Gäste vor das Barca-Tor durchkombinieren. Nach dem Führungstreffer dann hat bei Barcelona all das zum Erfolg geführt, was Bayern bis dahin über weite Strecken verhindern konnte: aggressives Nach-von-Verteidigen, pfeilschnelle Umschaltaktionen und die individuelle Klasse der Stars. Nach den Gegentoren hat bei Bayern aufgrund der vielen Verletzten der vergangenen Monate vielleicht die Kraft gefehlt, um sich letztlich besser aus der Affäre zu ziehen.
Für das Rückspiel in München wird Pep Guardiola wohl von Beginn an seine Taktik ab der 13. Minute – eine Viererkette mit zwei Sechsern – als Mittel der Wahl einsetzen, um gegen Barcelona bestmöglich gegen den Ball zu agieren. Spannend wird sein, ob wir beim Spiel mit Ball noch andere gruppentaktische Elemente sehen werden, um noch mehr Akzente in der Offensive setzen zu können. Dann spiegelt das Ergebnis hoffentlich auch ein wenig mehr die taktischen Höchstleistungen beider Teams wider.
Aufgezeichnet von Ullrich Kroemer
Quelle: ntv.de