Kein Kniefall vor der Wucht der Massen Hertha verdient eine zweite Chance
16.05.2012, 14:47 Uhr
Drohkulisse: Für Herthas Lewan Kobiaschwili und seine Teamkollegen war die Fortsetzung der Partie nach dem Platzsturm eine Ausnahmesituation.
(Foto: REUTERS)
Sportlich hat Hertha den Abstieg aus der Bundesliga verdient, aber sportlich sind die Berliner gegen Düsseldorf nicht abgestiegen. Die Umstände, unter denen das Relegationsrückspiel beendet wird, sind ein Skandal, dass Hertha weitergespielt hat, eine große Geste. Ein Fehler im System ist, dass Herthas Fairplay ein Wiederholungsspiel unwahrscheinlicher gemacht hat.

Vor dem Platzsturm hatten schon massive Bengalo- und Böllerwürfe zwei Spielunterbrechungen erzwungen.
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Raffael hätte einfach vorbeischießen sollen. Hätte der Berliner Mittelfeldspieler in der 85. Minute des Relegationsspiels gegen Fortuna Düsseldorf nicht seinen Job gemacht und ein verlorenes Spiel mit dem 2:2-Ausgleich noch einmal spannend, wäre dem deutschen Fußball die skandalöse Nachspielzeit womöglich erspart geblieben. So ist die 49. Bundesliga-Saison nicht mit einem spektakulären Relegationsfinale zu Ende gegangen, sondern mit einer Farce. Das Ende darf der Schlusspfiff von Wolfgang Stark um 22.49 Uhr nicht sein.
Es klingt fast entschuldigend, wenn Hertha-Manager Michael Preetz nun sagt, der Verein sei seinen Fans die Prüfung eines Protestes gegen die Spielwertung schuldig. Sportlich besteht kein Zweifel daran, dass Hertha BSC den Abstieg aus der Fußball-Bundesliga verdient hat, auch wenn das Relegationsrückspiel in Düsseldorf zu den besten Berliner Spielen der Saison zählte. Das Problem ist, dass Hertha in Düsseldorf nicht sportlich abgestiegen ist.

Die Partie war noch gar nicht abgepfiffen, da trugen Fortuna-Fans schon Rasenstücke vom Platz.
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Als Keeper Thomas Kraft in der 95. Minute schnell einen Abstoß ausführen wollte, um vielleicht doch noch ein Tor für Hertha zu ermöglichen, ging das nicht. Es waren freudetrunkene Fortuna-Fans auf dem Platz und es wurden immer mehr. Nach 15 Jahren Warten auf Erstklassigkeit waren sie zwei Minuten zu früh aufs Feld gestürmt, im Irrglauben, die Partie sei schon abgepfiffen. Das ist verständlich, menschlich, Fan-Sein. Es ist vor allem unsportlich und inakzeptabel.
Als das Spiel nach 20-minütiger Unterbrechung fortgesetzt wurde, fehlte in Krafts Strafraum der Elfmeterpunkt. Ein Fortuna-Fan hatte ihn sich vor einem Millionenpublikum an den TV-Geräten aus dem Rasen geschnitten und grinsend vom Platz getragen.
Sportlich wertloser Wiederanpfiff
Schiedsrichter Wolfgang Stark, Deutschlands EM-Referee, pfiff die Partie trotzdem noch einmal an, angeblich auf Drängen der Polizei. Die hatte bei einem Spielabbruch eine Eskalation im euphorisierten Fortuna-Stadion befürchtet, erklärte Hertha-Anwalt Christoph Schickhardt, und nur damit auch die Berliner zum Weitermachen bewegt.
Sportlich war der Wiederanpfiff für Hertha wertlos, es ging auch nicht mehr um Fußball. Fortuna-Manager Wolf Werner macht es sich zu einfach, wenn er sagt: "Der Spielablauf kann nicht infrage gestellt werden". Es ist ein Unterschied, ob aus dem Spiel heraus noch 90 Sekunden zu spielen sind, oder nach einer ewigen Unterbrechung mit tumultartigen Szenen auf dem Rasen und Unklarheit, ob überhaupt noch einmal angepfiffen werden kann und die Sicherheit gewährleistet bleibt. Ein entscheidender Unterschied, weil in 90 Sekunden im Fußball alles passieren kann. Es war auch nicht Herthas primäre Aufgabe in Düsseldorf, für Deeskalation zu sorgen.
Kniefall vor den Massen
Natürlich ist es dramatisiert, wenn Schickhardt behauptet, die Hertha-Spieler hätten leichenblass und mit Todesangst in der Kabine gesessen. Es braucht aber auch eine ungeheure Chuzpe, Schiedsrichter Wolfgang Stark für die Partie mit überschwänglichem Lob zu überschütten, wie es DFL-Schiedsrichterchef Hellmuth Krug in der ARD tat - während Ex-Nationalspieler Mehmet Scholl sichtlich betroffen um Worte rang.
Großes Glück sei es gewesen, dass niemand zu Schaden gekommen sei, befand Krug und machte dafür allein Starks Spielleitung verantwortlich, nicht Herthas Bereitschaft zum Weiterspielen. Es stünde den Berlinern gar nicht zu, das Spiel abzubrechen. Dieses Recht habe allein der Schiedsrichter, und der habe richtig entschieden.
Aber ist es konsequent, wenn ein Spiel schon in der 59. Minute wegen Bengalo- und Böllerwürfen unterbrochen werden muss, der Referee für den nächsten Zwischenfall den Spielabbruch ankündigt - und dann doch weiterspielen lässt, als wieder Böller fliegen und letztlich sogar der Platz gestürmt wird. Ist es vertretbar, einfach weiterspielen zu lassen, wenn sich der Stadioninnenraum schon während der Nachspielzeit mit Fans füllt, die dort nichts verloren haben und immer näher ans Spielfeld rücken? Und ist es richtig, wenn ein Fußballspiel nicht aus fußballerischen Gründen beendet wird, sondern wegen des Kniefalls vor der Wucht der Massen?
Was muss noch passieren?
Zurück bleibt die Frage, was bei einem weiteren Hertha-Tor in Düsseldorf passiert wäre. Und was passieren muss, ehe ein Spiel wie in Düsseldorf abgebrochen wird. Spötter würden sagen, dass der DFB-Präsident nicht Fortuna-Fan sein und während der Partie auf der Tribüne sitzen darf. Aber es sind Fragen, die sich der DFB stellen und die er beantworten muss.
Auch wenn Fortuna Düsseldorf für sich ausschließt, dass der Aufstieg am Grünen Tisch noch einmal verschoben werden könnte. Hertha bleibt gar keine andere Wahl, als Protest einzulegen. Ein Wiederholungsspiel wäre die richtige Entscheidung, für beide Vereine.
Die Krux ist nur, dass die Berliner einen erfolgreichen Protest mit ihrer Geste des Fairplay fast unmöglich gemacht haben, weil die Partie dadurch unter irregulären Bedingungen regulär beendet wurde. Der Sportrechtler Siegfried Fröhlich sagte im Gespräch mit n-tv.de: "Hertha hätte nicht weiterspielen dürfen." Die Chancen für einen erfolgreichen Protest schätzt er auf maximal zehn Prozent.
Es ist ein Fehler im System des DFB-Sportrechts, das Fairplay nicht immer belohnt wird. Aber es passt zu dieser Berliner Katastrophensaison, dass sich Hertha mit ihrer größten sportlichen Leistung wohl um die vagen Rettungschancen gebracht hat.
Raffael hätte einfach vorbeischießen sollen.
Quelle: ntv.de