"Big f***ing German" knockt England aus Löws Eleven können's auch dreckig
20.11.2013, 05:44 Uhr
Jubel bei Per Mertesacker nach dem Tor.
(Foto: imago sportfotodienst)
Die große Fußballshow ist es nicht in Wembley, doch mit dem Sieg gegen England gelingt der deutschen Nationalelf ein erfolgreicher Jahresabschluss. Nach dem Löw'schen Aufstellungsroulette gar nicht so schlecht.
Es gibt Komplimente, die im Grunde eine Beleidigung sind. Für eine Frau fährst du aber gut Auto, zum Beispiel. Oder: Ich hätte nie gedacht, dass ein Mann so sensibel sein kann. Gerne auch: Für dein Alter bist du aber noch gut in Schuss. Wer nun die deutsche Nationalelf in London gegen England hat Fußball spielen sehen, der könnte es so ausdrücken: Für einen so zusammengewürfelten Haufen war das doch in Ordnung. Zumal die zu Testzwecken und aus Verletzungsgründen auf acht Positionen umgestellte DFB-Elf verdient mit 1:0 (1:0) gewann, auch, weil Aushilfskapitän Per Mertesacker sechs Minuten vor der Pause nach einer Flanke von Toni Kroos den Ball durchaus sehenswert in das von Joe Hart gehütete Tor der Engländer köpfte.
Ehrlich gesagt: So war es auch. Ganz in Ordnung. Am Ende sogar genauso knapp und mühsam, wie es das Ergebnis aussagt. Die 85.934 Zuschauer im ausverkauften Wembleystadion wohnten einer weitgehend freudlosen Veranstaltung bei, wobei bemerkenswert war, dass so viele Menschen so leise sein können - abgesehen von einer nervtötenden Blaskapelle auf den Rängen, die sich einen Spaß daraus zu machen schien, unermüdlich gegen die Stille anzutröten. Auf dem Rasen war die deutsche Mannschaft damit beschäftigt, die Angriffsbemühungen der ebenfalls nicht überragenden Engländer zu unterbinden. Was ihr gelang, auch das sagt das Ergebnis aus.
Was auch zugleich das Positive an diesem Abschluss des Länderspieljahres ist: Die DFB-Elf kann's auch glanzlos und dreckig, hingebungsvoll, aggressiv und konsequent in der Defensive. Wenn's sein muss, grätscht auch ein Toni Kroos. Nur den so oft und so hochgelobten Angriffswirbel enthielten die deutschen Spieler dem Publikum diesmal vor. Was den Bundestrainer nicht daran hinderte, mit sich und seinem Team im Großen und Ganzen zufrieden zu sein. "Wir hätten das 2:0 machen und das Spiel viel früher entscheiden müssen. Darüber habe ich mich ein bisschen geärgert. Aber wir waren sehr, sehr ballsicher, haben gut umgeschaltet, alle haben in der Defensive mitgearbeitet. Man hatte nicht das Gefühl, dass die Engländer uns ausspielen können." Kurzum: "Meine junge und völlig veränderte Mannschaft hat das sehr, sehr gut gemacht." Für einen so zusammengewürfelten Haufen also in Ordnung.
Die deutschen Spieler in der Einzelkritik
Roman Weidenfeller: Der Dortmunder machte in seinem ersten Länderspiel keinen einzigen Fehler, was auch ein wenig daran lag, dass der 33 Jahre alte Torhüter nichts zu tun hatte. Nach einer knappen Stunde war das Glück auf seiner Seite, als der Ball nach einem fulminanten Schuss von Andros Townsend nur an den Pfosten ging. Das war's. Der älteste Debütant zwischen den Pfosten in der 105 Jahre währenden Länderspielgeschichte des DFB hat das hinterher schön ausgedrückt: "Torwartspezifisch gab es nicht all zu viel. Aber es kann so weitergehen." Was heißt: Er will mit zur WM nach Brasilien, als Nummer drei hinter dem Münchner Manuel Neuer und dem Hamburger René Adler. Vom Bundestrainer gab's dazu keine valide Auskunft. Er holte nur tief Luft und sagte: "Da müssen wir nicht heute oder morgen schon eine Entscheidung fällen." Im Training aber habe der Dortmunder einen ganz hervorragenden Eindruck gemacht. Und vor der Partie sei er "ganz cool" gewesen. Wir tippen: Weidenfeller ist in Brasilien dabei.
Heiko Westermann: Er ist zwar ein stolzes Mitglied der derzeit schwächsten Defensive der Bundesliga, doch immer mal wieder kommt der 30 Jahre alte Rechtsverteidiger vom Hamburger SV zum Einsatz, so dass es mittlerweile 27 Länderspiele sind. Hängte sich in der Abwehr rein, Kopfball kann er gut, nach vorne aber ging nicht viel. Und zur Erinnerung sei gesagt: Am rechten Ende der Viererkette spielt normalerweise Philipp Lahm. Und wenn der verhindert ist, eigentlich der Schalker Benedikt Höwedes. In Sachen WM-Bewerbung hat Westermann in London jedenfalls kaum Pluspunkte gesammelt. Nach 67 Minuten ging er mit Schmerzen im Knie raus, für ihn kam der zehn Jahre jüngere Schalker Julian Draxler in die Partie und zu seinem zehnten Länderspiel.
Per Mertesacker: Beim FC Arsenal feiern die Fans ihn als den "Big f***ing German". Und weil das als Höchstmaß an Zuneigung zu werten ist, ist der 29 Jahre alte Innenverteidiger stolz darauf, wie er jüngst erzählte. Mit seinen nunmehr 95 Länderspielen war Mertesacker der mit Abstand Erfahrenste im Team - und bekam die Kapitänsbinde, weil Philipp Lahm sich daheim in München ausruhen durfte. Und erzielte in der 39. Minute sein viertes Tor für die DFB-Elf. Bekam hinterher ein dickes Extralob vom Bundestrainer: "Der Per stand da und hat das Ganze organisiert." Auch das ist fast schon das Höchstmaß an Zuneigung, hat halt jeder seinen eigenen Stil. Der Gelobte machte sich derweil schon Gedanken um die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr: "Wir haben eine enorm hohe Zahl an guten Spielern. Es wird interessant, wen der Bundestrainer aufbietet. Wir wollen bei der WM auf einem Top-Level sein, nicht jetzt. Das war heute nur ein Warmwerden."
Jérome Boateng: Wenn Joachim Löw erzählt, dass Weidenfeller vor dem Spiel ganz cool war, dann möchten wir an dieser Stelle nachdrücklich darauf hinweisen, dass der 25 Jahre alte Innenverteidiger des FC Bayern vor allem während seines 36. Länderspiels extrem cool war. Wenn zum Beispiel mit Daniel Sturridge der derzeit erfolgreichste Torjäger der Premier League auf ihn zustürmte, spitzelte Boateng einfach den Ball weg - ohne eine Miene zu verziehen. Mertesacker gut, Boateng sehr gut - und was ist mit Mats Hummels? Der dritte Innenverteidiger im Bunde kam wie zuvor vereinbart zur zweiten Halbzeit für Boateng ins Spiel, so dass der Proporz zwischen Münchnern und Dortmundern vor dem Spitzenspiel am Samstag einigermaßen gewahrt blieb. Doch der 24-Jährige durfte in seinem 28. Länderspiel Wembley nur ganze 20 Minuten erleben - dann humpelte er raus. Fuß vertreten, berichtete Löw, eine genauere Diagnose steht noch aus. Also nächster Wechsel, der 25 Jahre alte Schalker Benedikt Höwedes durfte sich über sein 18. Länderspiel freuen.
Marcel Schmelzer: Der 25 Jahre alte Linksverteidiger der Borussia aus Dortmund machte seine Sache im 15. Länderspiel wesentlich besser als sein Pendant Westermann auf der gegenüberliegenden Seite. War maßgeblich daran beteiligt, dass die Engländer mit ihren Angriffen nicht durchkamen - und sein Vereinskollege Weidenfeller arbeitslos blieb. Nur der schnelle und trickreiche Andros Townsend stellte ihn bisweilen vor Probleme. Nach der Pause blieb Schmelzer in der Kabine - ein Schlag auf die Wade. Es kam sein direkter Konkurrent Marcell Jansen. Der 28-Jährige vom Hamburger SV agierte in seinem 44. Länderspiel gewohnt beflissen.
Lars Bender: Also, Lars war der mit der Nummer 15, das ist der Zwilling, der für Bayer Leverkusen spielt. Er ist 24 Jahre alt und absolvierte in Wembley sein 17. Länderspiel. Nach den Ausfällen von Bastian Schweinsteiger, Ilkay Gündogan und zuletzt Sami Khedira sorgte er mit seinem Bruder Sven auf der Doppelsechs vor der Viererabwehrkette dafür, dass in der Defensive wenig bis nichts anbrannte. Dabei hat Lars ein wenig mehr als Sven das Organisierer-Gen mitbekommen, wagte sich auch mal in die Offensive. Insgesamt klappte das Zusammenspiel aber prima. "Wir haben es früher schon gut gekonnt, uns gegenseitig abzusichern und wir haben es wieder weitestgehend gut gemacht."
Sven Bender: Das ist der, der für Borussia Dortmund spielt. Und sich in sieben Länderspiel mehr um die Defensive kümmerte. Machte das hochsolide und kam mit seinem Nebenmann überraschenderweise gut klar. Die Zwillinge aus dem oberbayrischen Brannenburg standen übrigens zum ersten Mal gemeinsam in der Startelf. Und wie sagte Sven: "Wir ergänzen uns gut, haben blindes Verständnis. Es war toll, mal wieder neben ihm auf dem Platz zu stehen. Es war ein tolles Erlebnis, mit Lars neben mir nochmal ein ganz Besonderes."
Mario Götze: Der 21 Jahre alte Mittelfeldspieler des FC Bayern startete in seinem 26. Länderspiel auf dem rechten Flügel in die Partie und übernahm nach Max Kruses Auswechslung den Job in der Angriffsmitte - Sie wissen schon, die Geschichte mit der falschen Neun. Schoss nach 65 Minuten sogar einmal aufs englische Tor, doch Joe Hart parierte. Trickste ansonsten wie nichts Gutes, war präsenter als noch am Freitag beim 1:1 in Mailand gegen Italien, wirkte aber insgesamt zu verspielt und zu wenig zielgerichtet. Irgendwie war das kein Abend für Edeltechniker.
Toni Kroos: Der 23 Jahre alte Münchner durfte in seinem 41. Länderspiel auf der Position des Spielmachers beginnen, da Mesut Özil sich auf Geheiß des Bundestrainers ausruhen durfte, obwohl er für den FC Arsenal spielt und in London wohnt. Kroos nutze seine Chance, verteilte prima die Bälle, organisierte das Aufbauspiel, machte also das, was vom ihm erwartet wurde, wenn er sich auch gelegentlich etwas zu weit zurückfallen ließ. Und er flankte sechs Minuten vor der Pause den Ball so präzise auf den Kopf des Kollegen Mertesacker, dass der das Tor des Abends erzielen konnte. Und, wir haben es genau notiert: In der 81. Minute setzte er zu einer veritablen Grätsche an - und zog sie auch durch. Nicht schlecht für einen Edeltechniker, passte zum Spiel.
Marco Reus: Dürfte einer gewesen sein, über den sich der Bundestrainer geärgert hat. Der 24 Jahre alte Dortmunder vergab nämlich in seinem 19 Länderspiel nach der Pause eine sehr große Chance zum 2:0. Er scheiterte - genau - an Joe Hart. Ansonsten sind Reus auf dem linken Flügel schon bessere Partien gelungen, er kam mit seinen Tempodribblings nicht so zum Zuge wie gewohnt. Allerdings beteiligte auch er sich fleißig an den Aufgaben in der Defensive. Und das wiederum ist genau das, was Joachim Löw sehen will. Und anschließend auch hervorhob. Für die letzten acht Minuten plus vier Minuten Nachspielzeit kam der 22 Jahre alte André Schürrle vom FC Chelsea für ihn in die Partie, konnte aber in seinem 30. Länderspiel nichts mehr bewirken. Musste er auch nicht.
Max Kruse: Der 25 Jahre alte Mönchengladbacher lief, da Miroslav Klose und Mario Gomez schon länger verletzt sind, nominell als einzige Spitze auf. Und zeigte in seinem sechsten Länderspiel, warum er selbst von sich behauptet, kein echter Stürmer zu sein. Er hing, wie es so schön heißt, meist in der Luft - obwohl ihm das Bemühen nicht abzusprechen ist. Gelaufen ist er wirklich viel. Nach 48 Minuten schoss er zum ersten Mal aufs gegnerische Tor, kurz darauf war Schluss mit Wembley. Ab der 56. Minute ersetzte der Bundestrainer ihn durch den 25 Jahre alten Leverkusener Sidney Sam, 25 Jahre alt, der in seinem fünften Länderspiel gut mit dem Kollegen Reus an der Außenlinie harmonierte und auch sonst eine große Freude am Spiel zeigte. Für einen, der noch nicht allzu oft dabei war, gar nicht so schlecht.
Quelle: ntv.de