Lothar Matthäus versteht's nicht Mertesacker offenbart "totale Erschöpfung"
11.03.2018, 14:41 Uhr
Wirkt meist gut gelaunt und mit sich im Reinen: Doch nach 15 Jahren Profifußball offenbart Per Mertesacker seine üblen Gefühle.
(Foto: imago/PRiME Media Images)
Fußballer müssen funktionieren - Schwäche zu zeigen gehört nicht auf den Platz, so die vorherrschende Meinung. Per Mertesacker beherzigt das jahrelang - versteckt seine wahren Gefühle. Nun kritisiert er den zu großen Druck im Profigeschäft - und muss dafür direkt einstecken.
Groß wie ein Baum, unerschrocken im Zweikampf, ein nervenstarker Anführer - so ist das Bild von Per Mertesacker in der Öffentlichkeit. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Der Leistungsdruck hat dem Fußball-Weltmeister während seiner gesamten Karriere körperlich und mental stark zu schaffen gemacht. Vor jedem Spiel habe sein Körper mit Brechreiz und Durchfall gestreikt, mitunter habe er eine "totale Erschöpfung" verspürt, verriet der 33-Jährige dem Magazin "Der Spiegel": "Der Druck hat mich aufgefressen."
Aus Scham und auch aus Angst vor beruflichen Konsequenzen verschwieg der Abwehrspieler des FC Arsenal seine Probleme. Nun aber, wenige Monate vor seinem Karriereende nach 15 Jahren Profifußball, wolle er "für die nachfolgenden Generationen" auch die Schattenseiten des angeblichen Traumberufes ausleuchten. Mertesackers bemerkenswert offene Aussagen geben in der Tat einen anderen Blick auf das Leben eines Profifußballers.
Viele Verletzungen "psychisch bedingt"
Rückblickend also an mehr als 500 Tagen in seinem Leben. "Ich muss dann einmal so heftig würgen, bis mir die Augen tränen", berichtet der 104-malige Nationalspieler. Damit Trainer, Mitspieler und Gegner nichts mitbekommen, habe er in diesen Sekunden den Kopf stets zur Seite gedreht. Bloß keine Schwäche zeigen. Schnell habe er realisiert, "dass du abliefern musst, ohne Wenn und Aber. Selbst wenn du verletzt bist". In diesem Job müsse man bereit sein, seine "Gesundheit zu opfern". Eine Verletzungspause sei mitunter "der einzige Weg, eine legitimierte Auszeit zu bekommen, mal raus zu sein aus der Mühle".
Mertesacker glaubt, dass viele seiner Verletzungen "psychisch bedingt" waren. Aktuell lässt ein Knorpelschaden im Knie keine Spiele zu, aber das ist ihm ganz recht: "Am liebsten sitze ich auf der Bank, noch lieber auf der Tribüne." Schon jetzt freue er sich auf sein Karriereende, "dann werde ich mit über 30 Jahren zum ersten Mal in meinem Leben frei sein".
Besonders schlimm sei der Druck bei der Heim-WM 2006 gewesen. Das Sommermärchen war für Mertesacker auch eine Qual, beim Halbfinal-Aus gegen Italien sei er zwar enttäuscht, aber auch erleichtert gewesen: "Ich dachte nur: Es ist vorbei, es ist vorbei. Endlich ist es vorbei." Mertesacker gibt offen zu, dass er kein einziges WM-Spiel mehr geschafft hätte. "Der Druck hat mich aufgefressen", sagt er, "dieses ständig Horrorszenario, einen Fehler zu machen, aus dem dann ein Tor entsteht." Dieser Druck sei "unmenschlich" gewesen.
Mertesacker steigt in Arsenals Nachwuchsakademie ein
Die Aussagen zur Heim-WM hätten ihn "erschrocken", sagte sein früherer Teamkollege Christoph Metzelder bei Sky. Rekord-Nationalspieler Lothar Matthäus sieht für Mertesacker nach dem Geständnis keine Zukunft mehr im Profifußball: "Wie soll er weiter im Fußball tätig sein? Wie will er einem Fußballspieler diese Professionalität vermitteln, wenn er sagt, da ist zu viel Druck? Das geht nicht."
Vielleicht ist Mertesacker aber genau deswegen der richtige Mann dafür, zumal er die schrecklichen Erfahrungen aus dem Suizid seines Freundes und Teamkollegen Robert Enke ("Kurz davor, alles hinzuschmeißen") einbringen kann. Mertesacker wird im Sommer eine leitende Position in der Nachwuchsakademie von Arsenal übernehmen. Er wolle in seinem neuen Job "das System angreifen" und den Jugendlichen auch auf dem zweiten Bildungsweg helfen. Mertesacker betont, dass ihm "die Privilegien meines Lebens bewusst" seien, und dass er seinen Lebensweg trotz seiner Probleme nicht bereue. Die Schattenseite will Mertesacker aber nicht länger verschweigen.
Quelle: ntv.de, Jörg Soldwisch, sid