DFB-Elf spektakelt in Glasgow Müller macht's, Neuer patzt, Hummels liebt's
08.09.2015, 04:45 Uhr
Thomas Müller hatte wieder einmal die beste Bilanz: Er bereitete ein Tor vor und erzielte zwei selbst.
(Foto: imago/Schüler)
Es war nicht das ganz große Fußballspiel, aber beste Unterhaltung: Die DFB-Elf siegt in Schottland und ist so gut wie EM-qualifiziert. Der Bundestrainer beansprucht die Kontrolle, Gündogan glänzt - nur einer verliert den Überblick.
Einfach zu gewinnen, das wäre zu einfach, ein schnöder Auswärtssieg bei einem Außenseiter ist die Sache der deutschen Fußballer offenbar nicht. Ein bisschen Spektakel muss es schon sein. Was die DFB-Elf dem enthusiasmierten Publikum am Montagabend im mit 50.753 Zuschauern nicht ganz ausverkauften Hampden Park zu Glasgow bot, war wohl nicht das, was sich Bundestrainer Joachim Löw gewünscht hatte. Und das 3:2 (2:2) in und gegen Schottland war definitiv nicht das Spiel, das alle erwartet hatten. Die Gastgeber trugen einen guten Teil dazu bei, indem sie - abgesehen von der Schlussphase - mit einem ultradefensiven 6-3-1-System, bitte verzeihen Sie diesen Kalauer, die Schotten dicht machten; und dann doch bei zwei Standardsituationen unter gütiger Hilfe der deutschen Abwehr und dem Zutun von Torhüter Manuel Neuer ihre raren Chancen nutzten.
Dass die deutsche Mannschaft diese Qualifikationspartie zur Europameisterschaft 2016 in Frankreich dann doch noch gewann und ihr nun im nächsten Spiel in Irland ein Remis reicht, lag vor allem, ja, an Thomas Müller, der auch nach der WM trifft, wie er will. Aber auch daran, dass sie nach den Gegentoren munter weiter kombinierte, auf ihre spielerische Klasse vertraute, nach einer wilden ersten Halbzeit die Ruhe fand, sie bewahrte und sich letztlich den Sieg auch erarbeitete. Der Bundestrainer wollte sich erst gar nicht auf eine Diskussion über lässliche Fehler einlassen und legte fest: "Insgesamt haben wir das Spiel absolut im Griff gehabt. Im Grunde hat Schottland keine Chance herausgespielt." Das ist richtig. Zwei Tore geschossen haben sie dennoch. Die deutschen Spektakelexperten in der Einzelkritik:
Manuel Neuer: Wer den 29 Jahre alten Torhüter des FC Bayern München beurteilt, kommt in der Regel an einem Satz nicht vorbei: "Bei den Gegentoren war er machtlos." Nach seinem 60. Länderspiel lässt sich das so nicht sagen. Vorsichtig formuliert: Er sah bei Gegentoren nicht so richtig glücklich aus - auch wenn das ein dummer Journalistensatz ist. Aber vor dem ersten Treffer der Schotten, der eigentlich kein Treffer der Schotten war, geschah Folgendes: Nach einem Freistoß von Shaun Maloney faustet Neuer den Ball nach vorne. Der Ball prallt auf den Oberschenkel von Mats Hummels und fliegt von dort ins Tor. Und so stand es nach einer knappen halben Stunde 1:1. Und als James McArthur zwei Minuten vor der Pause auf Neuers Tor schoss, schlug der Ball direkt neben ihm ein. Sei's drum: "Wir hatten vorne nicht ganz so viele Räume, aber drei Tore haben wir gemacht. Es war extrem schwierig, weil wir bei Standardsituationen nicht aufmerksam waren. Jetzt müssen wir so weiter machen und den Schwung aus den beiden Spielen mitnehmen."
Emre Can: Die Position des rechten Außenverteidigers ist nicht der natürliche Lebensraum des 21-Jährigen, der beim FC Liverpool in der englischen Premier League im defensiven Mittelfeld spielt. Gemessen daran machte er seine Sache als verkappter Außenstürmer in seinem zweiten Länderspiel nach seiner Premiere am Freitag beim 3:1 gegen Polen wieder so, dass er sich das Prädikat "ordentlich" verdient hat - auch wenn er erst langsam ins Spiel fand und überflüssigerweise den Freistoß vor dem 1:1 verursachte; und auch, wenn er es war, der Neuer vor dem 2:2 ein wenig irritierte. Jedenfalls gilt weiterhin: Dieser Platz in der DFB-Elf bleibt vakant. Das sagte durch die Blume auch der Bundestrainer: "Natürlich können wir von ihm keine Wunderdinge erwarten. Natürlich gibt es Einiges zu verbessern. Und natürlich müssen wir ihn dabei begleiten." Das heißt aber auch: Can soll weiterhin eine Rolle spielen. Nur welche, das scheint noch nicht ganz klar.
Schottland: Marshall - Hutton, Russell Martin, Hanley, Mulgrew - Brown (ab 80. Martin), McArthur - Forrest (ab 81. Ritchie), Morrison, Maloney (ab 60. Anya) - Fletcher
Deutschland: Neuer - Can, Boateng, Hummels, Hector - Schweinsteiger, Kroos - Müller, Gündogan, Özil (ab 90.+2 Minute Kramer) - Götze (ab 86. Schürrle
Schiedsrichter: Björn Kuipers (Niederlande)
Tore: 0:1 Müller (18.), 1:1 Hummels (28., Eigentor), 1:2 Müller (34.), 2:2 McArthur (43.), 2:3 Gündogan (54.)
Zuschauer: 50.753
Jérôme Boateng: Der 27 Jahre alte Innenverteidiger des FC Bayern zeigte auch in seinem 54. Länderspiel, warum er den inoffiziellen Titel des Abwehrchefs tragen darf. Er zeigte sich unbeeindruckt von der fantastischen Stimmung im schottischen Nationalstadion und räumte souverän in aller Seelenruhe ab, was es abzuräumen gab. Dabei half ihm, dass er meist schon dort stand, wo der Ball erst hinkam. Im Zweikampf macht ihm eh keiner etwas vor. Und hatten wir seine feinen Diagonalpässe erwähnt, mit denen er das Angriffsspiel seiner Mannschaft einzuleiten pflegt? Jetzt ja. Boateng ist übrigens mit Mario Götze der einzige Spieler, der in allen acht EM-Qualifikationsspielen in der Startelf stand.
Mats Hummels: Ups, ein Eigentor. Wie konnte das passieren? Kommt halt vor, erklären kann man das nicht. Was faustet der Neuer auch den Ball auf seinen Oberschenkel? Aber das sollen die beiden mal schön unter sich ausmachen. Abgesehen davon absolvierte der 26 Jahre alte Dortmunder an der Seite des Kollegen Boateng ein sehr ordentliches 41. Länderspiel, weil auch er im Zweikampf seine Stärke hat, was ja als Abwehrspieler kein Nachteil ist. Allerdings forderte ihn Steven Fletcher bisweilen gewaltig. Hummels hatte, wie er in der Nacht per Twitter mitteilte, vor der Partie "Gänsehaut bei der schottischen Hymne. Was für eine Stimmung! Deswegen liebe ich Fußball".
Jonas Hector: Der 25 Jahre alte Abwehrspieler des 1. FC Köln unterstrich in seinem siebten Länderspiel, dass er nicht annähernd gewillt ist, den Job am linken Ende der Viererkette kampflos abzugeben. Er machte seinen Job sehr engagiert, sehr sachlich, sehr überzeugend. Hector ist einer, der weiß, was er kann - und was nicht. Deshalb versucht er auch nichts Außergewöhnliches, sondern spielt den Ball konzentriert und präzise dorthin, wo er hin soll. So hat er sich, wie die Fußballer so gerne sagen, fürs Erste in der Mannschaft festgespielt. Er jedenfalls träumt schon von der EM im Sommer kommenden Jahres, das hatte er schon nach dem Sieg gegen Polen gesagt: "Natürlich wäre es ein Traum, ein Turnier mitzuspielen. Ein Selbstläufer wird es nicht, und ich sollte mich nicht darauf ausruhen. Ich muss mich jedes Mal neu beweisen." Das hat er dieses Mal getan.
Toni Kroos: Immer, wenn er nicht für den entscheidenden Pass oder gar das entscheidende Tor verantwortlich ist, heißt es: "Kroos? Unauffällig." Das stimmt einerseits, andererseits war der 25 Jahre alte defensive Mittelfeldspieler von Real Madrid als eine Hälfte der Doppelsechs neben Bastian Schweinsteiger auch in seinem 60. Länderspiel derjenige seiner Mannschaft, der den Ball am traumwandlerischsten annahm und weiterleitete. Das kann er einfach - und es ist stets eine Freude, ihn dabei zu beobachten. Aber wenn eben nicht der entscheidende Geistesblitz dabei war, ist das - gemessen an seinen Fähigkeiten - eher nur Durchschnitt. Aber sagen wir es so: In 90 Minuten auf 157 Ballkontakte zu kommen ist so schlecht nicht - und besser als jeder andere auf dem Feld. Und wenn dann noch von 143 Pässen 138 beim Mitspieler ankommen, dann lässt sich sagen: Er hat das Spiel unter Kontrolle.
Bastian Schweinsteiger: Etwas weniger leichtfüßig wirkte das Ganze beim 31 Jahre alten Kapitän, der seit dieser Saison nicht mehr beim FC Bayern spielt, sondern bei Manchester United sein Geld verdient. In seinem 113. Länderspiel wechselte er sich wieder mit Kroos ab, wenn es darum ging, wer nach vorne stürmt und wer nach hinten absichert. Das klappte gut, die beiden kennen sich ja aus gemeinsamen Münchner Zeiten. Positiv formuliert ist Schweinsteiger derjenige, der für die Tempowechsel zuständig ist - nur dass er meist von schnell auf langsam schaltet, indem er erst auf den Ball tritt und ihn dann quer spielt. Sehr dynamisch wirkt das nicht. Und die entscheidende Idee hatte er auch nicht. Kurzer Vergleich mit Kroos: 127 Ballkontakte, von seinen 117 Pässen kamen 110 bei einem Kollegen an, in der ersten Halbzeit gar 62 von 63. Das wiederum liest sich jetzt so schlecht nicht.
Thomas Müller: Der Mann des Abends. Wer auch sonst? Diese Einschätzung ist jetzt, zugegeben, nicht sonderlich originell. Schließlich brachte der 25 Jahre alte Flügelspieler des FC Bayern in seinem 65. Länderspiel die deutsche Mannschaft zwei Mal, in der 18. und in der 34. Minute, in Führung - seine Tore Nummer sieben und acht in dieser EM-Qualifikation. Und vor dem 3:2 für die DFB-Elf spielte er einen zauberhaften Doppelpass mit Ilkay Gündogan. Fast überflüssig zu erwähnen, dass er rannte und kämpfte wie eh und je. In den 16 Länderspielen seit dem Beginn der WM war er an 18 Toren direkt beteiligt, 14 Mal traf er selbst, vier Mal legte er vor. Der Bundestrainer war voll des Lobes: "Thomas hat einen Lauf und steht da, wo ein Stürmer stehen muss. Er hat ein Näschen für solche Situationen." Und was sagt Müller? "Es läuft gerade. Ich fühle mich gut, die Bälle fallen gut, ich treffe richtige Entscheidungen."
Ilkay Gündogan: Der 24 Jahre alte Dortmunder Borusse hatte bei seinem 37-Minuten-Einsatz den Bundestrainer offenbar so überzeugt, dass er prompt in die Startelf rückte. Und er war in seinem 13. Länderspiel prompt - neben dem Kollegen Müller natürlich - mit seiner Dynamik und Schnelligkeit einer der Besten in der DFB-Elf. Eine Leistung, der er mit seinem sehenswerten Tor zum 3:2 nach 54 Minuten das Krönchen aufsetzte - zumal es letztlich das entscheidende war. Gab sich hinterher sehr bescheiden. Der Müller Thomas habe "so gut aufgelegt, da blieb mir nichts anderes übrig, als den Ball ins Tor zu schießen". Auch sonst war er zufrieden: "Ein Stück weit war es ein Geduldsspiel, weil die Schotten sehr, sehr tief standen und es uns so schwer gemacht haben. Wir haben es trotzdem geschafft, den Ball gut laufen zu lassen und waren immer wieder gefährlich vor dem Tor. Am Ende sind wir froh, dass wir das dritte Tor erzielt haben und die drei Punkte mitnehmen." Also er hat es erzielt.
Mesut Özil: Der 26 Jahre alte Offensivkünstler des FC Arsenal musste in seiner 68. Partie für die deutsche Nationalelf damit leben, wie nach einer Stunde beim Sieg gegen Polen auf den linken Flügel auszuweichen, da Gündogan im zentralen Mittelfeld agieren durfte. Das mag für ihn ein wenig ärgerlich sein, eine gute Entscheidung war es dennoch. Denn Gündogan spielte prima. Und Özil? Ist definitiv einer, mit dem es sich gut kombinieren lässt. Aber ein wenig war ihm schon anzumerken, dass er nicht auf seiner Lieblingsposition spielen durfte. War aber stets anspielbar und mühte sich redlich. Bei ihm ist es ein wenig so wie mit dem Kollegen Kroos: Wenn er nicht die ganz großen Taten vollbringt, gerät er schnell in den Verdacht, sein Potential nicht ausgeschöpft zu haben. Und das mit den Zweikämpfen ist seine Sache nicht: Er gewann nur einen von fünf. In der zweiten Minute der Nachspielzeit nahm Löw in runter, Christoph Kramer, 24 Jahre alt und beim TSV Bayer 04 Leverkusen unter Vertrag kam auf den Rasen und zu seinem elften Länderspiel.
Mario Götze: Der nach seinen zwei Toren gegen Polen hochgelobte Hochbegabte ging im Hampden Park leer aus. Was nicht heißt, dass der 23 Jahre alte Mittelfeldspieler des FC Bayern in der Rolle des Mittelstürmers nicht überzeugt hätte. Nein, sein 47. Länderspiel war durchaus ein starkes. Schnell, wendig, trickreich und technisch stark wie er ist, versuchte er viel bis alles, um die schottische Betonabwehr in Form einer Sechserkette zu knacken. Das gelang nicht immer, aber er rieb sich auf und spielte sehr, sehr mannschaftsdienlich. Dass dieser Müller ihm die Show stahl, darf ihm nicht zum Nachteil gereichen. Und zwei Tore hat er dann ja doch noch erzielt, und die waren auch noch schöner als die des Kollegen Müller -allerdings stand Götze dabei zweimal im Abseits. Nach 86 Minuten war Schluss, der 24 Jahre alte André Schürrle vom VfL Wolfsburg kam - sein 47 Länderspiel.
Quelle: ntv.de