Ganz England wollte Portugiesen Risikospieler Rúben Amorim wählt roten Krisen-Giganten
01.11.2024, 18:41 Uhr
Amorim mit einem älteren Sporting-Fan.
(Foto: IMAGO/Maciej Rogowski)
Am Ende war es keine Überraschung mehr: Rúben Amorim wird neuer Trainer von Manchester United. Schon im Sommer tauchte der junge Portugiese auf dem Radar der Premier League auf. Nun übernimmt der Ex-Coach von Sporting Lissabon einen strauchelnden Riesen, an dem so viele gescheitert sind.
Es gibt eine Geschichte über Rúben Amorim, die ein wenig über seinen Charakter erzählt und die man in Portugal in diesen Tagen wieder etwas öfter hört. Sie stammt aus dem Sommer 2019 und handelt vom holprigen Start seiner Trainerkarriere. Amorim war gerade 34 Jahre jung und hatte bis dahin nur Casa Pia trainiert, ein damaliger Drittligist, dessen Mini-Stadion im Westen Lissabons praktisch nur eine Tribüne hat, dafür aber von einer massiven Betonmauer umrundet wird. Besonders auffällig war Amorim dort nur geworden, weil er sich beinahe eine einjährige Sperre einhandelte, da er den Klub ohne die nötige Lizenz trainiert hatte. Es gibt Trainerkarrieren, die verheißungsvoller beginnen.
In jenem Sommer also stand Rúben Amorim schließlich ohne Anstellung und große Perspektive da, bis sich plötzlich Benfica Lissabon meldete. Der Rekordmeister also, Portugals größter Klub, wollte den Ex-Profi als Trainer für seine U23 verpflichten. Die höchste Jugendmannschaft immerhin, es hätte ein Neustart mit Aussicht werden können - aber Amorim lehnte ab. Er hätte lieber die zweite Mannschaft in der 2. Liga trainieren wollen anstatt als Lieferant für Talente zu arbeiten.
Anstatt dankbar anzunehmen, sagte er selbstbewusst Nein. Kurz darauf landete er dann schließlich doch bei einer 2. Mannschaft, der von Sporting Braga, die er aber nur einige Wochen trainierte, ehe er zum Chefcoach der Profis befördert wurde und dank außergewöhnlichen Erfolgs für Sporting Lissabon interessant wurde. Der Rest der Geschichte ist weitgehend bekannt.
Der Zehn-Millionen-Euro-Mann
Zehn Millionen Euro zahlte Sporting im März 2020, um Amorim aus Braga zu verpflichten. Die gleiche Summe zahlt nun Manchester United an Sporting, um Amorim wieder einmal mitten in der Saison von seinem aktuellen Verein loszueisen. Nach dem legendären Sir Alex Ferguson ist der 39-Jährige der neunte Trainer, der den seit Jahren strauchelnden Rekordmeister zurück in längst vergangene Erfolgssphären führen soll.
Und damals wie heute stellt sich die Frage, was diesen jungen Portugiesen so interessant macht, dass erneut ein Klub eine ordentliche Ablösesumme für ihn bezahlt. Was also zeichnet den Ex-Nationalspieler aus, wieso tauchte er schon im Sommer auf dem Radar vom FC Liverpool oder West Ham United auf? Und was sagt es über ihn aus, dass er Sporting ausgerechnet jetzt verlässt, nach nicht mal einem Drittel der Saison und einem fast perfekten Start?
Wer Amorims rasanten Aufstieg begreifen will, könnte beispielsweise bei Roger Schmidt anfangen. Während seiner Zeit als Trainer von Benfica neigte der Deutsche nie zu kommunikativem Übereifer, weder in die eine noch die andere Richtung. Es war für Schmidts Verhältnisse also eine Ausnahme, dass er seinen Rivalen Amorim gleich mehrfach als "sehr guten Trainer" bezeichnete, zumal der gebürtige Sauerländer keinen anderen Trainerkollegen in Portugal dermaßen lobte.
Im Sommer beinahe Klopp-Nachfolger geworden
Nachdem Amorim im März 2020 also zu Sporting kam, brauchte er gerade mal eine volle Saison, um den Klub zum ersten Meistertitel seit 19 Jahren zu führen. Eine etwas schwächere Saison erlaubten Amorim und Sporting sich nur 2022/23, als Schmidt und Benfica die Liga dominierten. Im Sommer holte Sporting dann erneut den Titel, keine andere Mannschaft spielte so dominant, keine so schön. Nicht wenige rechneten schon dann mit einem Abschied Amorims, der am Ende aber etwas überraschend doch blieb.
Aber jetzt, nach neun Siegen aus neun Liga-Spielen und zudem noch immer ohne Niederlage in der Champions League, geht er dann doch. Vor wenigen Monaten hatte Amorim sich noch dafür entschuldigt, als kurz vor Saisonende ein Geheimtrip nach London öffentlich geworden war, damals soll er mit West Ham verhandelt haben. Auch Liverpool hatte ihn als Nachfolger von Jürgen Klopp auf der Liste.
Stattdessen wird es jetzt United, wo er den in England noch immer exzellenten Ruf portugiesischer Trainer bestätigen soll. José Mourinho war 2004 beim FC Chelsea der Erste, Amorim kann nun in die Fußstapfen seines Landsmanns treten. Die ersten Titel haben ihn für diesen Job qualifiziert, seine Fähigkeiten als Trainer brachten ihn dorthin. Sein Erfolgsmodell basiert gewissermaßen auf drei Säulen.
Die Säulen des Erfolgs
Zum einen bringt der Familienvater eine exzellente Außendarstellung mit. Amorim schafft es, selbst unangenehme Fragen auf Pressekonferenzen souverän abzumoderieren. Er spricht mit einer Klarheit, die bei seinen Gesprächspartnern keine Fragen offen lässt. Mit dieser Offenheit formte er auch das exzellente Innenleben seiner Mannschaft und schaffte es, einen Hochkaräter wie Viktor Gyökeres nach Lissabon zu lotsen.
Ähnlich wie sein Trainer hätte auch der schwedische Torjäger Sporting im vergangenen Sommer in Richtung eines Topklubs verlassen können. Aber er blieb, weil Amorim blieb. Gyökeres war gewissermaßen Amorims letztes Puzzlestück. Mit der Verpflichtung des wuchtigen Stürmers im Sommer 2022 passte der Trainer auch seine Spielweise an. Diese Anpassung folgte gewissermaßen einem Muster, weil es fast drei Jahre dauerte, bis er Sporting so spielen sah, wie es seiner Idealvorstellung entspricht. Weil es eben diese drei Jahre gedauert hatte, bis er seine Wunschspieler dafür zusammenhatte. Gyökeres kam also schließlich als Königstransfer.
Schritt für Schritt also baute der Titelverteidiger eine Mannschaft nach Amorims Vorstellungen auf. Ein taktisch hoch entwickelter Kader mit 3-4-3-Grundsystem und sehr offensiven Außenverteidigern, einer wuchtigen Mittelfeldzentrale und Gyökeres als schneller Sturmspitze. Und genau hier steht der 39-Jährige auch gleich vor seiner ersten Herausforderung bei seinem neuen Klub: denn der unausgewogen zusammengestellte Kader von Manchester United hat derzeit kaum Akteure, die dem Anforderungsprofil für das von Amorim präferierte System entsprechen, vor allem nicht die so wichtigen Außenverteidiger.
Warum Manchester United?
Amorims Sporting kann mit dem Ball und gegen den Ball fast alles: tiefe Pässe mit Gyökeres als Zielspieler für schnelle Angriffe, ein ruhiger Aufbau aus dem Rückraum oder kompaktes Verteidigen mit Fünferkette. Keiner schießt in Portugal mehr Tore als Sporting (30), keiner kassiert weniger (2). Aber es brauchte eben Zeit, um das aufzubauen. Zeit ist in Manchester ein noch knapperes Gut als in Lissabon.
Und dann ist da noch die Frage nach der Art und Weise seines Abschieds. Warum jetzt, mitten in der Saison? Dass ihm nicht wenige Sporting-Fans diesen Schritt übelnehmen, überrascht nicht, zumal er im vergangenen Frühjahr noch groß seinen Verbleib und die Attacke auf die dritte Meisterschaft angekündigt hatte. Großen Zeitdruck dürfte er ebenfalls nicht verspüren, da er immer noch am Anfang einer verheißungsvollen Laufbahn steht und längst zu den begehrtesten Trainern in Europa zählt. Auch im nächsten Sommer dürften also wieder einige Angebote kommen.
Drittens wäre da noch die Frage nach dem Risiko, das er bei Manchester United eingeht. Einem Klub, dessen Kader nicht nur schlecht zusammengestellt, sondern auch längst daran gewöhnt ist, dass Trainer kommen und gehen. Amorim könnte der nächste sein. Aber er wäre wohl nicht Rúben Amorim, wenn er dieses Risiko nicht eingehen würde. Das war ja schon ganz am Anfang seiner Karriere so.
Quelle: ntv.de