UEFA raubt die Stammtisch-Themen Schade um die Auswärtstorregel!
25.06.2021, 18:27 Uhr
Auswärtstor-Legende!
(Foto: AP)
Jeder hat sie schon mindestens einmal gehasst, die Auswärtstorregel. Was für Dramen hat die "Doppel-Wertung" von Treffern in der Fremde im europäischen Fußball in den vergangenen Jahren verursacht. Nun fällt sie weg. Tolle Sache, oder nicht? Leider nein.
Felipe Santana hat es in Dortmund nicht in den Kreis der größten Legenden geschafft. Das wäre auch ein wenig hoch gegriffen. Zu oft war der Brasilianer nur dritter Mann in der Innenverteidigung - hinter Mats Hummels und Neven Subotic. Und der Fachmann weiß: In einer Viererkette ist der dritte Innenverteidiger der erste ohne einen Stammplatz. Eine kleine Legende ist Santana in Dortmund aber doch. Und das nur, weil der Fußball im April 2013 so war, wie er war. Weil nicht jede noch so knappe Szene von einem Video-Mann überprüft wurde. Weil der BVB in der Nachspielzeit nach dem 2:2 durch Marco Reus noch auf 3:2 spielen musste, um in der Champions League zu überleben. Um das Viertelfinale gegen den FC Malaga nach einem 0:0 im Hinspiel noch zu drehen.
Und dieses 3:2 erzielte Santana. Er stocherte den Ball aus kürzester Distanz über die Linie. Es war ein Tor, dass es nie hätte geben dürfen. Die Abseitsregelung wurde in der Vorbereitung mehrfach außer Kraft gesetzt. Aber egal. So fanden es Norbert Dickel und Danny Fritz. Im Netradio der Borussia rasteten die beiden Moderatoren aus. Ja, man muss es so sagen: Sie rasteten aus! Was für Emotionen (hier nochmal nachzuhören)! Es war indes nicht nur ein Tor, das es nie hätte geben dürfen. Es war auch ein Tor, das nie gefallen wäre, hätte es die Auswärtstorregel nicht gegeben. Denn natürlich hätte das Team von Trainer Jürgen Klopp nach dem Ausgleich in der 91. Minute nicht mehr auf Sieg gespielt. Auch, wenn Klopp im Rausch zu allem fähig ist. Sie hätten auf Verlängerung gesetzt. Dortmund gegen Malaga, es ist nur ein Beispiel. Ein besonderes, keine Frage.
Nun, an den VAR haben wir uns längst gewöhnt. Wir haben uns daran gewöhnt, den ersten Jubelimpuls sofort zu unterdrücken, zum Schiedsrichter zu schauen, ein Getränk zu holen, wieder auf den Platz (Tribüne oder Couch) zu fallen und zu warten. Dauert ja schließlich, bis man weiß, ob man eskalieren darf. Oder nicht. Wobei die nachgetragene Eskalation immer die nicht schöne ist. Aber so ist es im Fußball des Jahres 2021. Gerechtigkeit muss sein! Unbedingt auch im Fußball, der ja schon in seiner Grundidee (Obacht, Ironie) darauf angelegt war, den Sieger stets nur in regelkonformer und juristischer Perfektion zu ermitteln. Was wäre denn los, wenn eine Fehlentscheidung ein Spiel entscheiden würde! Man hätte Emotionen, Diskussionen. Stammtische hätten ihr Thema, die Menschen an den Theken müssten Getränken zapfen. Unfassbare Szenen. Möchte man sich nicht vorstellen.
Ein Anreiz für aktive Teilnahme
Nun fällt also auch die Auswärtstorregel weg. Endlich, rufen viele. War ja auch ungerecht, rufen ebenfalls viele. Was aber nicht stimmt. Denn sie galt ja sowohl im Hin- als auch im Rückspiel. Vergisst man manchmal. Gleiches Recht für alle also. Fakt ist: Jeder Fußball-Fan hat diese Regel in seinem Leben mindestens einmal gehasst. Die Anhänger des FC Malaga im April 2013. Tatsächlich muss man diese Regel nicht mögen, um sie gutzuheißen. Denn sie hat Spielen das Drama gegeben. Sie hat Helden geschaffen. Und andere Rollen. Sie hat den Fußball lebendig gemacht und lebendig gehalten. An Spätis und Trinkhallen. In Bussen und Bahnen. Im eigenen Garten und am Arbeitsplatz. Und sie hat Mannschaften stets den Anreiz gegeben, den Torabschluss in der Fremde zu suchen. Ob sich der Erfolg in einer Statistik widerspiegelt, ist dabei mal völlig egal.
Kurzer Exkurs zur Einführung der Regel vor 56 Jahren: Anstrengende Anreisen, nicht genormte Plätze - der Vorteil für Heimteams war viel größer als heutzutage, dem Gegner sollte durch dieses "Schmankerl" ein kleiner Vorteil verschafft werden. Stillschweigend versehen natürlich mit der Bitte, sich aktiv am Spielgeschehen zu beteiligen. Und den Heimmannschaften wurde eben der Druck auferlegt, auf Tore des Gegners doppelt intensiv reagieren zu müssen. Kann man ja gut finden, diese Anreize. Außerdem, so ein Gedanke, könne man damit häufiger die Verlängerung umgehen. Die gab ja der Mannschaft im Rückspiel den Vorteil, sich womöglich 30 Minuten länger unter Vorteilsnahme des eigenen Stadions, der eigenen Fans, erfolgreich um den Sieg zu bemühen.
Nun, natürlich nimmt der Wegfall der Regel dem Fußball nicht zwingend das Drama. Die UEFA hat auch schon größere Verbrechen am Fußball begangen. Allein bei dieser EM ist die Liste lang. Nochmal zum Drama: Das Tor von Reus gegen Malaga war schon Geschichte genug. Aber warum muss man den alten Fußball und seine Regeln immer wieder ändern? Ein Gewinn an Attraktivität ist nicht versprochen. Und der Ansatz, dass mittlerweile so viel Geld im Spiel ist und falsche Entscheidungen wohlkalkulierte Finanzpläne der Klubs durcheinanderwirbeln könnten, lässt all jene stocksteif erschaudern, denen die Kommerzialisierung des Fußballs eh schon mächtig auf den Sack geht. Man kann Regeln auch verachten, um sie zu mögen. Denn sie geben diesem Spiel das, was es auszeichnet: Emotionen. Themen. Wir werden die "Sehnsucht nach dem Auswärtstor" noch vermissen.
Quelle: ntv.de