Fan-Krawalle als Warnung? Surreales Mentalitäts-Derby wird den Pott verändern
11.03.2023, 08:35 Uhr
Nach Sympathien muss auf der Tribüne niemand fragen.
(Foto: picture alliance / Chai von der Laage)
Das 100. Bundesliga-Derby ist für Schalke 04 und Borussia Dortmund von unglaublicher Bedeutung. Selten war die Ausgangslage zu so einem frühen Zeitpunkt der Saison brisanter. Beide Klubs haben wundersame Wiederauferstehungen hingelegt. Die Fans haben bereits vorgelegt, auf ungute Art und Weise.
Schalke 04 steckt mitten im Abstiegskampf. Und das ist eine gute, eine erstaunliche, eine Euphorie auslösende Nachricht für alle Menschen, die es mit den Königsblauen halten. Denn bis vor ein paar Wochen hatte wenig bis nichts darauf hingedeutet, dass der Gelsenkirchener Traditionsklub noch eine aktive Rolle im Kampf um den Klassenerhalt in der Fußball-Bundesliga einnehmen kann. Viel zu viele Gegentore, viel zu wenig eigene Tore. Doch dann kam die Winterpause, der Klub justierte clever nach und prompt läuft's (wenn auch noch auf einem überschaubaren Niveau).
Aber was soll's. Der Kampf ist zurück, die Leidenschaft, der Glaube. Und binnen einer Woche kann der totgeglaubte Verein die größte Auferstehung der jüngeren Bundesliga-Geschichte feiern. Zwei Derbys, zwei Erfolge, das würde Schalke mindestens beflügeln. Gegen den VfL Bochum wurde der erste Schritt getan, etwas holperig zwar, aber Punkte sind eben Punkte. Gegen den BVB soll der zweite folgen. Er wäre von der Bedeutung weitaus wichtiger. Weil größer, weil epischer. Und weil schmerzhafter. Den Borussen, die bis zum vergangenen Wochenende auf einer gigantischen Welle des Erfolgs surften, von großen Erfolgen in Europa träumten (gegen den FC Chelsea geplatzt!) und in der Meisterschaft den FC Bayern so vehement stressen, so richtig einen mitzugeben, das wär's!
Nur auf dem Feld freilich, auch wenn die aktive Fan-Szene so richtig aufgeladen ist. Der Überfall auf die königsblauen Ultras vor wenigen Wochen, an dem BVB- und RWE-Hooligans beteiligt gewesen sein sollen, wirkt noch heftig nach. Hoffentlich nur Nebengeräusche, der ganz große Lärm soll durch die Arena schallen. "Ich weiß, dass die Brisanz sehr groß ist", sagt Derby-Debütant Thomas Reis. "Ich glaube nicht, dass ich dafür zum Bäcker gehen muss. Es reicht, wenn ich in die Augen der Mitarbeiter schaue."
Fährmann erlebt 19. Trainer auf Schalke
Dem Trainer ist dieses atmosphärische Mini-Wunder gelungen. Mit dem ebenfalls längst abgeschriebenen und durch das "Kuchen-Gate" sogar zwischenzeitlich diskreditierte Ralf Fährmann im Tor, mit einer plötzlich stabilen Abwehr und dem Glauben an die ganz großen Dinge. "Ich habe das Glück, dass ich schon viele Jahre Erfahrung auf Schalke habe", sagt der Keeper, "man weiß ja, dass hier mehr Druck herrscht, weil so viel Leidenschaft im Spiel ist." Dass er unter seinem insgesamt 19. (!) Trainer auf Schalke noch mal befördert wurde, ist überraschender als jemals zuvor.
Seit Fährmann wieder im Tor steht, hat Schalke in sechs Spielen nicht mehr verloren, den Rückstand auf die Konkurrenz aufgeholt und nur ein Gegentor kassiert - ausgerechnet nach einem kapitalen Fehler von Fährmann. Als er erstmals im Klassiker zwischen den Pfosten stand, im September 2008 beim wilden 3:3 in Dortmund, gab auf der Gegenseite auch Mats Hummels sein Derbydebüt. "Wir haben im Moment eine ganz gute Phase", sagt Reis. "Wir haben eine Riesenmöglichkeit zu zeigen, dass wir unser Momentum weiter ausführen wollen. Vor ein paar Wochen hat noch jeder darüber geredet, wie hoch das Ergebnis ausfällt. Jetzt hat sich das Blatt ein bisschen gewendet."
BVB muss auf wichtige Spieler verzichten
Natürlich auch, weil Borussia Dortmund erst am Dienstag in London erfahren musste, wie dünn die Luft an der Spitze ist. Die erste Niederlage im Jahr 2023 beendete den Traum von einem Viertelfinale in der Champions League. Das in den Seilen hängende Chelsea nutzte die Kaderüberlegenheit und die letztendlich erschöpfte Dortmunder Mannschaft hatte wenig Antworten auf das Spiel des Tabellenzehnten der englischen Premier League. Mit 0:2 und einem unguten Gefühl aufgrund der mehrfachen VAR-Unterbrechungen ging es Mittwoch im Frühlingsschneetreiben zurück in Richtung Ruhrgebiet und dort wurde es auch nicht besser.
Denn dass die Antworten gegen Chelsea fehlten, lag selbstverständlich auch an der frühen Verletzung des überragenden Spielers der letzten Wochen. Julian Brandt ging in der fünften Minute vom Platz und wird frühestens beim Top-Spiel gegen Bayern München zurückerwartet. Der Ausfall des Nationalspielers wiegt schwer, zumal auch der "Mister 1:0", Marco Reus, London ohne Stimme, aber mit einer Grippe verließ und das Prunkstück des BVB im Jahr 2023 somit endgültig sprengte. Zwar besteht beim BVB-Kapitän noch eine Resthoffnung auf den Einsatz im Derby, doch die Bank, das Prunkstück des BVB, ist extrem ausgedünnt. Neben Brandt und vielleicht Reus fehlen zudem noch Youssoufa Moukoko und Karim Adeyemi. Vier Offensivkräfte weniger, die Trainer Edin Terzić zu irgendeinem Zeitpunkt des Spiels reinwerfen kann.
Dabei war genau das einer der großen Stärken des BVB in der bisherigen Spielzeit. "Das ist die Qualität der Bank. Wir haben immer wieder gesagt, dass wir uns wünschen würden, auf alle Gegebenheiten im Spiel reagieren zu können", sagte der Dortmunder Trainer, nachdem Jamie Bynoe-Gittens das zehnte BVB-Jokertor der Saison erzielt hatte. Das war in Bremen, Mitte Februar. Seitdem hat die Bank ihre Produktion eingestellt. Denn kurz darauf, im nächsten Liga-Spiel gegen Hertha, schloss sich das kurze Fenster der Dortmunder Verletzungslosigkeit.
Terzić gibt Kampf aus
Borussia Dortmund pfeift vor dem Derby aus dem letzten Loch und weiß genau, dass jede weitere Niederlage auch in der Liga das Ende aller Meisterträume darstellen würde. Aber das hat der BVB auch nicht vor. Nicht im Derby, nicht im 100. Bundesliga-Derby. "Es gibt für uns noch eine Menge, wofür man in dieser Saison kämpfen darf. Wir sind definitiv bereit", sagt Terzić und in der Tat wird das die große Kernfrage sein: Ist der BVB bereit oder nicht? Denn trotz all der Ausfälle, trotz des Rückschlags in der Champions League gibt es genug Dinge, für die es sich aus Dortmunder Sicht zu kämpfen lohnt. Und wenn es nur die Aussicht darauf ist, am 1. April in der Tat als Meisterschaftsanwärter in Richtung München zu reisen.
Das Duell der letzten ungeschlagenen Klubs der Bundesliga-Rückrunde ist für Borussia Dortmund eine große Charakterfrage. Die eben auch daraus bestehen wird, sich nicht in unzählige Zweikämpfe verwickeln zu lassen, die Überlegenheit des Kaders auszuspielen und letztendlich genau das zu kopieren, was ihnen selbst an der Stamford Bridge widerfahren ist. Platt gesagt: Wenn zwei Teams es mehr wollen, dann gewinnt das mit der höheren individuellen Klasse. Wenn nicht, dann gewinnt das mit mehr Mentalität. Für den Verlierer steht eine Zeitenwende ins Haus. Er wird aus allen Wolken fallen und den Anschluss verlieren. Keine schlechten Voraussetzungen für ein surreales Mentalitätsderby mit gigantischen Verwerfungen und Wendungen.
Quelle: ntv.de