Bundesliga-Insider Rhind-Tutt "Tuchel stellt fest, welch große Probleme der FCB hat"
19.04.2023, 08:27 Uhr
Thomas Tuchel ist nach wenigen Tagen bei den Bayern ziemlich nachdenklich.
(Foto: picture alliance / Wagner)
Nach nur fünf Spielen steht Thomas Tuchel bei Bayern München gewaltig unter Druck. Gegen Manchester City geht es am heutigen Mittwoch noch nicht um seine Zukunft, aber um richtig, richtig viel. Archie Rhind-Tutt ist Field Reporter bei ESPN und BT Sports. Er hat im September das letzte Interview mit Tuchel als Chelsea-Trainer geführt und hat erstaunliche Parallelen ausgemacht.
ntv.de: Archie Rhind-Tutt, Sie haben im September nach dem Spiel bei Dinamo Zagreb das letzte Interview mit Thomas Tuchel als Chelsea-Trainer geführt. Wenig später wurde er gefeuert. Am Wochenende haben Sie Tuchel wieder interviewt und die beiden Interviews miteinander verglichen. Wie kam es dazu?
Archie Rhind-Tutt: Weil er so einsilbig in seinen Antworten war und weil er so wenig in die Tiefe gehen wollte, weil er auf die Frage nach den Problemen mit "alles" antwortete. Als ich Samstag mit ihm sprach, kam es kurz zu dem Punkt, dass ich nur noch daran dachte, was ich damals im September gefragt habe und mich dagegen wehren musste. Es fühlte sich so gleich an. Natürlich, damals in Zagreb habe ich mich ein wenig geärgert, dass ich ihn nicht gefragt habe, ob er glaubt, am nächsten Morgen noch Trainer zu sein. Das war Samstag nicht der Fall. Doch man konnte merken: Tuchel stellt jetzt fest, vor was für einem Berg an Problemen er wirklich steht und dass es von außen vielleicht doch einfacher ausgesehen hat.
Sie haben mit Tuchel auch nach dem 4:2 über den BVB gesprochen. Das war sein erstes Spiel als Bayern-Trainer. Inwiefern hat er sich in der kurzen Zeit verändert?
So eine große Veränderung lässt sich da überhaupt nicht wahrnehmen. Er war vor dem Spiel unheimlich nervös, flüsterte das Bastian Schweinsteiger ins Ohr, der direkt neben mir stand. Nach dem Spiel hat er das auch noch einmal ausgiebig erzählt. Es hat den Anschein, dass auch er sehr angespannt ist, in welche Richtung das bei den Bayern geht. In England erfährt er großen Respekt. Das ist in Deutschland nicht zwangsläufig so. Die englischen Kollegen bezeichnen ihn immer wieder als "charmant". Das ist nicht unbedingt ein Attribut, das ihm in Deutschland zugeschrieben wird. Das vielleicht als kleine Einleitung. Was hat sich verändert? Wenn wir ehrlich sind: Das Dortmund-Spiel war so etwas wie ein "freak result", ein Spiel außer der Reihe. Tuchel zieht großen Stolz daraus, dass seine Teams Tore aus dem Spiel heraus erzielen und jetzt treffen sie wie Underdogs, aus der Distanz und nach Standardsituationen. Bei der Qualität der Mannschaft muss da einfach mehr kommen.
Tuchel wurde gewiss nicht verpflichtet, um gegen Freiburg im Pokal zu verlieren, sondern wohl eher, um gegen City vielleicht die Sensation zu schaffen. Denn trotz der acht Siege aus den acht bisherigen Spielen der Champions League sind die Bayern nicht als Favorit in das Viertelfinale gegangen. Mit Tuchel kam nun einer, der bei Chelsea gezeigt hat, wie man mit einem neuen Klub die Champions League gewinnen kann. Dort wurde er im Januar geholt. Ist die Zeit bei den Bayern einfach zu knapp gewesen, um sich auf all die Probleme einzustellen?
Bei Chelsea hat er damals von Frank Lampard übernommen. Das war eine ganz andere Geschichte. Nach allem, was in England über Lampard zu hören war, hatte Tuchel viel mehr Spielraum, seine DNA zu implementieren und den Spielern seine Ideen einzupflanzen. Bei Bayern hat er die Gruppe von Julian Nagelsmann übernommen. Ein riesiger Unterschied. Anders als Lampard hat Nagelsmann seine Spieler eher mit taktischen Ideen überladen. Da lohnt besonders ein Blick auf Dayot Upamecano. Der wusste genau, was er im System Nagelsmann zu tun hatte und jetzt werden andere Dinge von ihm verlangt. Er weiß nicht genau, wie er damit umzugehen hat und schon passieren diese Fehler wie gegen Manchester City.
Haben die Bayern diese Umstellungen nicht einkalkuliert?
Die sportliche Führung hat das gewiss unterschätzt. Bei Chelsea kam er im Januar, konnte lange Anlauf nehmen, hatte auch Zeit, unter der Woche zu trainieren. Bei Bayern kamen die Spieler aus der internationalen Pause und spielen jeden dritten Tag. Ein Teil von Tuchels Ego wollte sicher beweisen, dass es auch mit dieser Situation umgehen kann. Seine sichtbare Frustration speist sich wohl auch daher, dass er feststellt, wie viele Probleme es da gerade bei den Bayern gibt.
Welche Position hatte Tuchel bei Chelsea genau inne?

Thomas Tuchel bei seinem letzten Spiel als Chelsea-Trainer am 6. September in Zagreb.
(Foto: picture alliance / PIXSELL)
Das darf man nicht unterschätzen. Er war nicht verantwortlich für die Transfers, aber natürlich hatte sein Wort richtig Gewicht. Sein Ende bei Chelsea begann mit dem russischen Angriff auf die Ukraine und den sofortigen Auswirkungen auf den damals von Roman Abramowitsch geführten Klub. Die eingefrorenen Konten, die Transfersperre bis zum Verkauf, das Ende der Klubführung, unter der er so erfolgreich gearbeitet hat. Das war der Wendepunkt. Es gab kein Zerwürfnis mit den handelnden Personen - so wie es damals bei Borussia Dortmund der Fall war. Die neue Vereinsführung mit Todd Boehly wollte ein Zeichen setzen. Was daraus geworden ist, sieht man an dem Hühnerhaufen, der dort nun übers Feld läuft.
Und Tuchel wird immer noch verehrt?
Sein Ruf in England ist immer noch tadellos. Wenn es für ihn bei Bayern schiefläuft, wird er keine Probleme haben, in England noch einmal einen Job zu bekommen. Das ist auch ein Problem der Bayern. Dort wird darauf geschaut, dass sie Carlo Ancelotti, der jetzt mit Real Madrid so erfolgreich arbeitet, verbrannt haben, dass sie es mit Julian Nagelsmann auch nicht ausgehalten haben. Wenn du es bei Bayern nicht schaffst, bist du also noch lange kein schlechter Trainer. Sogar Jupp Heynckes brauchte dort ja sehr viele Anläufe, bis er zu der Legende wurde, die er jetzt ist. Bayern München ist ein komplizierter Verein …
… komplizierter als ein Klub der Premier League?
Definitiv. Bei Bayern wird auf die Namen geschaut. Es geht darum, wie du dich in den Medien darstellst, wie deine Persönlichkeit wahrgenommen wird. Bei Bayern ist der Trainer aktuell immer auch viel mehr ein Außenminister. In der Premier League lieferst du Resultate und die Fans unterstützen dich. Wie jetzt Eddie Howe bei Newcastle United. Da ist egal, ob der Klub Saudi-Arabien gehört. Nagelsmann hat sich die Kritik der Bayern-Fans auf der Jahreshauptversammlung 2021 lange anhören müssen. Dazu kommt noch die Vereinspolitik. Da muss darauf geachtet werden, dass Thomas Müller die richtige Behandlung widerfährt, dass die Meinungsmacher im Hintergrund wie Uli Hoeneß nicht verstört werden. Das gibt es in England so nicht. Klar - du musst die Legenden wie Roy Keane beeindrucken. Aber das funktioniert über die Resultate. Die Mentalität ist ganz anders: Solange du deinen eigentlichen Job vernünftig machst, hast du keine Probleme dort.
Und in Deutschland?
Julian Nagelsmann musste ja feststellen, dass auch die anderen Schauplätze sehr wichtig sind.
Auf seinen letzten beiden Stationen in Paris und bei Chelsea hatte Tuchel ein nahezu unbegrenztes Transferbudget. Bei Bayern wird das im Sommer anders sein. Kann das zu Problemen mit den Klub-Bossen führen?
Es bleibt abzuwarten, mit wem er darüber im Sommer bei Bayern verhandeln wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Bayern Bosse Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic so All-In gehen können und dann nach einer womöglich titellosen Saison ohne Schrammen davonkommen. Das wäre eine peinliche Nummer für den Klub und das hätte natürlich Auswirkungen. Viel steht und fällt mit dem Spiel heute gegen Manchester City und wie sie sich verkaufen. Das könnte so Auswirkungen darauf haben, wie attraktiv Bayern nach drei schlechten Jahren in der Champions League überhaupt noch für Spieler sein wird.
Wie werden die Bayern überhaupt in England wahrgenommen?
Die meisten Leute im englischen Fußball nehmen die so überhaupt nicht wahr. Weil sie so sehr mit der Premier League beschäftigt sind und weil die Bayern-Dominanz der letzten Dekade die Bundesliga hat langweilig werden lassen. Sie haben zwar einmal die Champions League gewinnen können, aber sie sind weit davon entfernt, Real Madrid zu sein. Die Meistertitel in der Bundesliga werden nicht wirklich respektiert, dafür sind sie allen anderen Klubs zu weit enteilt. Es wird immer weniger beeindruckend. Zumindest wird das über die Liga erzählt. In München startet die Saison erst im April, sagen sie und das stimmt ja auch. Und wenn die Saison im April dann auch wieder beendet ist, ist das natürlich fatal. Erst wenn sie wieder Titel in der Champions League holen, wird sich das ändern. Damit steht und fällt alles. Und danach sieht es nicht aus gerade, oder?
Wir werden sehen, wir werden sehen. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Rhind-Tutt.
Mit Archie Rhind-Tutt sprach Stephan Uersfeld
Quelle: ntv.de