
Sheraldo Becker macht alle glücklich.
(Foto: IMAGO/Matthias Koch)
Bald vier Jahre spielt Union Berlin nun in der Bundesliga. Die Köpenicker sprengen auf ihrem Überschallflug alle Grenzen. Nächster Halt: Champions League. Die Fans im Stadion können es kaum glauben, doch der Superheld Sheraldo Becker macht es möglich.
Mit einem 4:2 (3:0) gegen den SC Freiburg im Endspiel um die Champions League steht Union Berlin wieder einmal vor der größten Sensation der Vereinsgeschichte. Zwei Spieltage vor Schluss haben die Köpenicker nicht nur die Qualifikation für die Europa League gesichert, sondern einen gigantischen Schritt in Richtung Königsklasse gemacht. Drei Punkte und acht Tore steht das Team von Trainer Urs Fischer nun vor dem Gegner aus dem Breisgau. Jetzt kann eigentlich nichts mehr passieren. Die fantastische Reise des neuen Hauptstadtklubs Nummer eins geht weiter.
Der Ausnahmezustand ist längst Alltag in der Alten Försterei, in der am Samstag Sheraldo Becker zum Helden mit der Spidermanmaske wurde. Der 28-Jährige erzielte zwei Tore, bereitete die anderen beiden Treffer vor und machte nebenbei die Kinder im Stadion glücklich. Seine eigenen mit seinem Maskenjubel nach dem 2:0, für den er sich vom grinsenden Schiedsrichter Marco Fritz eine Gelbe Karte abholte und ein anderes mit seinem Trikot, das er bei seiner umjubelten Auswechslung in der Endphase des Spiels unters Volk brachte. Becker hatte diesem herrlichen Frühlingsnachmittag alles auseinandergespielt, war auf den Flügeln präsent, war der Schlüsselspieler in den Umschaltmomenten und versetzte die Freiburger Verteidigungsreihen in andauernden Alarmzustand.
"Ich habe auf den richtigen Moment gewartet", erzählte er später im Plauderton über seine Spidermanmaske, die er sich nach seinem ersten Treffer recht stümperhaft übers Gesicht gezogen hatte. Die Maske hatte ihn geschlagene 15 Euro gekostet und nun ein Bild für die Ewigkeit produziert. Sie ist ab sofort Teil der Erzählung einer der unwahrscheinlichsten Geschichten der Bundesliga-Historie. "Ich habe sie seit einem Jahr, und heute hatte ich sie zum ersten Mal mit", sagte er und freute sich. Wie sich alle freuten, weil eben nicht nur Becker zweimal in lediglich drei Minuten (36. und 38.) zuschlug, sondern auch Kevin Behrens (5.) und Aissa Laidouni (80.) trafen und so die kurze Drangphase der Freiburger mit zwei Treffern Mitte der zweiten Halbzeit als Strohfeuer entlarvten.
Baumhäuser in der Wuhlheide
Der perfekte Nachmittag für Union Berlin war Bundesliga-Spiel Nummer 22 ohne Niederlage im heimischen Stadion. Das schmiegt sich einer Festung gleich an der einen Seite an die Spree und Wuhle und wird auf der anderen Seite durch das undurchdringbare Waldgebiet der Wuhlheide abgesichert. Doch große Veränderungen kündigen sich an. Der Fußball in Berlin-Köpenick wird sich in den kommenden Jahren auf immer verändern. Die Momente, die die Anhänger von Union dieser Tage erleben, werden bald einer neuen Zeit weichen müssen.
Fußball in der Alten Försterei hat weiterhin etwas zutiefst Archaisches. Zwar hat sich die Liga im vierten Union-Jahr längst an diesen Ursprungsort gewöhnt und auch die Pilgerreisenden pflegen eine gewisse Routine. Alles ist gelernt, doch alles bleibt anders. Immer noch stehen die Barden im Wald und an den Baustellen, die den Weg vom S-Bahnhof Köpenick auf Dauer verändern werden.
Denn sogar in Köpenick ist alles endlich. Noch ein Jahr soll in dem Stadion Fußball gespielt werden, dann wird die Alte Försterei eine andere sein. Kaum mehr dürften nach den Spielen die Glücksbetrunkenen hinter dem Stadion mit ihren Fahrrädern im Wald stürzen und dort liegenbleiben. Wenige hundert Meter weiter in den Wald hinein haben die ersten Aktivisten bereits ihre Baumhäuser gesetzt. Bald schon soll dort eine glitzernde Schnellstraße die Wege in Berlin verkürzen. Die Zukunft macht auch vor diesem Bundesliga-Kleinod keinen Halt.
Der SC Freiburg hat den Weg schon abgeschlossen
Als Becker in der 86. Minute den Platz verließ, standen auch die wenigen Leute auf, die sonst sitzen. Sie applaudierten ihm, verabschiedeten ihn mit tosendem Beifall. Der gebürtige Amsterdamer hatte Union mit seiner Leistung in Richtung Champions League befördert. Sie dankten es ihm und hinter der Trainerbank bauten sich die Kinder auf. Sie wollten das Trikot mit der Nummer 27. Becker zog es aus, warf es und einer schnappte zu. Der Jöre umklammerte es und rannte los, immer entlang des Spielfelds. Er triumphierte nicht, er war ungläubig. Wie fast alle, die diesen unglaublichen Aufstieg mitverfolgt haben.
Doch das Ende der Unschuld naht, doch bis dahin feiern sie noch eine letzte große Party. "So'ne Scheiße, so'ne Scheiße, so'ne Scheiße - Champions League" sangen sie, beinahe erschrocken davon, dass ihre Heldenreise einfach nicht enden will. Sie erinnerten sich an die Zeiten in der zweiten Liga, als der Kroate Damir Kreilach im Mittelfeld die Fäden zog und der Traum von der ersten Liga beinahe gleichberechtigt neben dem vom Überleben im Profifußball stand. Das ist vorbei. Das sportliche Überleben ist längst abgesichert, jetzt geht es für Union um das Ankommen ganz oben. Eine Aufgabe, die gewaltiger nicht sein könnte. Veränderungen werden den Verein durchschütteln, Rückschläge ihn aufwühlen. Krisen ihn stählen und erst nach diesen Prüfungen wird aus der Euphorie ein neuer gestandener Erstligist hervorgehen, der seinen Platz im System Bundesliga gefunden hat.
Der Gegner, SC Freiburg, hat diese Transformation längst durchgemacht. Die Breisgauer sind das Gegenstück zu Union. Ihr Biotop hieß Dreisamstadion, ihre große Zeit begann in den 1990er Jahren unter Trainer Volker Finke. Sie haben Abstiegen getrotzt, waren in Europa und im Abstiegskampf, haben sich immer wieder runderneuert, nur nicht auf der Trainerposition. Die Freiburger haben die Wellentäler des Fußballs längst durchschritten, sie kennen die Tiefen und begegnen ihnen mit Langmut, verfallen nicht in Panik. Sie haben ihren Weg beschritten, sind in ein neues Stadion gezogen, sie haben Spieler kommen und gehen sehen und doch nichts verloren.
"Es steht alles auf tönernen Füßen"
Dieses Wissen haben sie Union voraus, denen der triste Alltag einer Saison im Mittelmaß oder im Abstiegskampf noch bevorsteht. Noch hat der steile Aufstieg kein Ende gefunden, noch wächst der Verein rasant und in Überschallgeschwindigkeit, dessen Knall alles andere übertönt. Dabei gibt es bereits zaghafte Mahner, die auf eine durchaus angespannte Finanzsituation hinweisen. "Union macht ungefragt eine sehr gute Entwicklung durch. Nur ist diese mit Vorsicht zu genießen", sagte der Wirtschaftsexperte Henning Zülch dieser Tage dem RBB. Er verwies auf das negative Eigenkapital des Klubs und ergänzt: "Es steht alles auf tönernen Füßen."
Nicht nur Real Madrid und Manchester City stehen jetzt kurz vor Köpenick, sondern die großen Begehrlichkeiten des Fußballs. Die zukünftigen Millionen aus der Champions League werden die Statik des Vereins erneut verändern. Geschäftsführer Oliver Ruhnert weiß das. "Ich glaube, die kommende Transferperiode wird die schwierigste, seitdem wir aufgestiegen sind. Unabhängig von allem", sagte er bereits im letzten Monat dem "Berliner Kurier". Wie sehr sich die Welt verändert, war bereits an der Aufstellung von Trainer Fischer gegen den SC Freiburg abzulesen. Die mit viel Wirbel empfangenen Neuzugänge Josip Juranovic und Aissa Laidouni begannen auf der Bank. Laidouni kam spät und traf zum 4:2. Es war der erste Treffer des Tunesiers für seinen neuen Klub.
Als der Sieg zur Halbzeit eigentlich schon eingefahren waren, erklangen in der Försterei erst die Buzzocks mit "Ever Fallen In Love", diesem Song über krachend gescheiterte Liebesbeziehungen und dann kamen die Spieler zurück. Der Beschallungsbeauftragte Wumme, ein Seismograf der Befindlichkeiten, erinnerte sie mit der Berliner Punkband Acht Eimer Hühnerherzen an diesen Weg. Im Lied "Eisenhüttenstadt" werden noch nicht besuchte Sehnsuchtsorte aufgelistet, gegen die Brandenburger Provinz in Rathenow, Neuruppin, Falkensee und natürlich Eisenhüttenstadt geschnitten. Malaga, Mailand, der Mars - alles "voll egal", denn die Liebhaber, die warten nicht dort, sondern in der Heimat, in der Alten Försterei.
Endet die Heldenreise sogar auf dem Mars?
Die über 20.000 Liebhabenden sangen so wie sie immer singen, weit bis in den Abend hinein. In den Katakomben standen die Spieler und gaben Auskunft darüber, was nun passieren würde. "Ich weiß gar nicht, wie nah wir jetzt dran sind. Aber sicher: Wir sind nah dran", sagte Becker über das unglaubliche Ziel Champions League. Wir werden sehen, was in den nächsten zwei Spielen passieren wird und wo wir dann stehen." Ein paar Meter weiter und ein paar Minuten später saß Christian Streich im kleinen Presseraum der Unioner. Er musste erklären, wie der SCF den fünften Platz absichern kann.
Dann setzte Streich zur großen Lobhuldigung für seinen Trainerkollegen an. "Das ist sensationell", sagte er über den Schweizer Fischer. "Überall, wo er war, hat er Erfolg gehabt. Er hat alles im Griff, sie sind defensiv eine der besten Mannschaften, die ich kenne. Wahrscheinlich in Europa. Es ist ganz, ganz gut. Es spricht für die deutsche Bundesliga, dass so Vereine wie Union Berlin sowas erreichen können. Ein paar Dinge stimmen da noch, die in anderen Ligen nicht mehr stimmen."
Veränderungen aber gibt es auch in der Bundesliga. Dort setzte sich im vergangenen Monat ausgerechnet Union-Präsident Dirk Zingler an die Spitze der Investoren-Bewegung. Den Fans auf der Waldseite, dem lautesten Teil des lauten Stadions, ist es seit Wochen Proteste wert. So auch an diesem Samstag. Doch das war nur eine Randnotiz, denn die Unwirklichkeit des Lebens als Union-Fan überschattete alles. Statt Eisenhüttenstadt heißt es nun bald Champions League und vielleicht bald mit dem Superhelden Becker auch Mars. Dort wollte der ehemalige FIFA-Präsident Sepp Blatter bekanntermaßen zukünftige Weltmeisterschaften abhalten. Union Berlin dürfte dann als eigener Staat daran teilnehmen. Ausschließen lässt sich überhaupt nichts mehr.
Quelle: ntv.de