Historische Nacht gegen Ajax "Surreales" Union Berlin verfällt dem Wahnsinn
24.02.2023, 08:55 UhrNach Bayer Leverkusen und dem SC Freiburg zieht auch Union Berlin in das Achtelfinale der Europa League ein. Sie machen es auf ihre Weise. Ohne Ballbesitz besiegen sie den europäischen Top-Klub Ajax Amsterdam und berauschen sich weiter an sich selbst.
Union Berlin steht im Achtelfinale der Europa League. Aufgeheizt durch eine wunderbare Choreo und angepeitscht von wilden Fans auf den Tribünen kamen die Köpenicker zu einem auch in der Höhe durchaus glücklichen 3:1 gegen Ajax Amsterdam. Mehr als genug, um nach dem 0:0 im Hinspiel nun auf den nächsten Gipfel ihrer unendlichen Heldenreise zu warten. Die Mannschaft des Schweizer Trainers Urs Fischer führt weiterhin jede Fußball-Statistik ad absurdum. "Wenn der Traum wahr wird", hieß es auf der Choreo der Union-Anhänger, "wird das Leben zum Rausch". Und so war es dann auch. Schon wieder.
Als Ajax Amsterdam gegen Ende des Spiels immer wieder den Ball im Mittelfeld herschenkte und Ritter Keule, das überhaupt nicht knuffige Maskottchen von Union Berlin, wild mit den Armen gestikulierte und die Alte Försterei minutenlang "Vorwärts, Vorwärts, Fußballclub Union Berlin" brüllte, wurde der große Traum vom Achtelfinale der Europa League langsam Realität. 3:1 stand es da für die Eisernen gegen das große Team aus dem Nachbarland. Kaum 20 Minuten waren noch zu spielen. Die Angriffswellen von Ajax ebbten ab, immer wieder wurde Stürmer Sheraldo Becker auf Reisen geschickt, der mit seiner Schnelligkeit für Gefahr sorgte. Es war egal, ob er traf oder nicht. Denn so war der Ball erst einmal weg, nicht in der Nähe des eigenen Tores. Es langte. Reichlich.
Immer, wenn Becker losging, stand die Tribüne auf. Nicht einmal in der Erwartung, dass ein Tor fallen würde, sondern um sich von dem Rausch tragen zu lassen. Denn der Traum wurde ja wahr. Ein Traum, der für Außenstehende überhaupt keiner war. Denn natürlich ging Union gegen dieses Ajax im Umbruch nach dem 0:0 im Hinspiel zumindest nicht als Außenseiter in das Spiel. Zu viel Erfolg hatten sie nach der langen WM-Pause in allen Wettbewerben. Nach dem Sieg bei RB Leipzig schon waren Trainer Fischer die Worte zwar nicht ausgegangen, aber er musste bereits Superlative bemühen. "Surreal" sei das, was gerade passiert und "surreal" war auch diese Partie oder eben "Wahnsinn", wie der Schweizer mehrfach befand.
Unterirdische Statistiken, viele Tore
"Wo steht dieses Union", philosophierte er nach dem Spiel mit Blick auf den unglaublichen Lauf des Teams: "Wir wenden für all das auch enorm viel auf. Wie die Mannschaft eine Bereitschaft zeigt, wie sie Wille zeigt, wie sie trotzdem versucht mutig zu bleiben, auch wenn sie, wie heute, in der ersten Hälfte leiden muss. Das beschreibt sehr gut, wo die Mannschaft steht. Sie ist unermüdlich. Es ist doch so: Im Moment läuft sehr viel für uns. Heute hatten wir einfach enorm viel Glück. Das muss dann auch zugeben. Es gilt nicht allzu viel zu studieren, sondern dranbleiben."

Rani Khedira war Kapitän und organsierte die Defensivsucht. Mo Kudus verzweifelt.
(Foto: picture alliance / DeFodi Images)
Die statistischen Werte der Köpenicker und natürlich der Spielverlauf gaben Fischer recht. Es waren Werte, die so wahrscheinlich selten auf höchstem Niveau für einen Erfolg sorgen und in der Alten Försterei doch beinahe längst Standard geworden sind. Am Ende hatte Ajax 73 Prozent Ballbesitz, davon einen Großteil sogar in der Hälfte des Gegners. Die Niederländer brachten 87 Prozent ihrer 688 Pässe an den Mann, die Eisernen kamen gerade einmal auf 244 Pässe mit einer Quote von unterirdischen 64 Prozent. Werte, die einige Beobachter verzweifeln lassen. Damit darf man nicht gewinnen, sagen sie. Das ist kein Fußball, schimpfen sie und haben doch keine Ahnung.
Union hat während des unglaublichen Laufs das Fehlerspiel Fußball perfektioniert. Es geht um klinische Präzision in den entscheidenden Momenten, um den richtigen Umschaltmoment oder eben wie gegen den niederländischen Rekordmeister um das Spielglück. Um den Torwartfehler auf der richtigen Seite, um den Kopfball im richtigen Moment. Gnadenlos kalte Effizienz, die von immer neuen Spielern befeuert wird.
Immer neue Spieler für die Union-Maschine
Erst im Winter hatte Transferikone Oliver Ruhnert dem Kader neue Spieler zugeführt. Jerome Roussillon kam vom VfL Wolfsburg, der Tunesier Aissa Laidouni von Ferencavros aus Ungarn und der Kroate Josip Juranovic von Celtic Glasgow. Die beiden letztgenannten hatten Ende 2022 für ihre Länder die WM absolviert. Sogar dort also war es Union gelungen, Spieler für ihre Zwecke zu scouten. Spieler, die sich sofort nahtlos in das System Union einfügen. "Was heute passiert ist, geht bei diesem Klub in die Geschichtsbücher ein. Wir leben jetzt den Traum", sagte Außenverteidiger Juranovic nach seinem Debüttreffer. "Ich hatte einen richtig guten ersten Eindruck von diesem Verein. Der Trainer und der Sportdirektor haben mich angerufen und mir erklärt, was sie hier für ein Projekt haben. Das hat mir gefallen und deswegen bin ich hier."
Das Projekt Union Berlin. Das Fischer und Ruhnert seit dem Sommer 2018 gestalten. Fünf Jahre für die Ewigkeit. Sie eilen von Bergetappe zu Bergetappe. Sie erreichen immer neue Gipfel. Niemand stört sich daran, dass sie in den Tälern, den Spielen gegen den einst großen FC Schalke 04 zum Beispiel, manchmal nur mitfahren, sich rollen lassen, um Kraft zu schöpfen für die nächsten Anstiege. Weil dieser Wahnsinn nicht aufhört, und die Welle sich immer weiter aufbaut, sodass die einzige Sache, vor der sich die Köpenicker momentan fürchten müssen, die totale emotionale Erschöpfung am Ende dieses fantastischen Ritts durch die Fußballgeschichte ist.
Seit einem Jahr nur eine Niederlage mehr zu Hause. Nur einmal in der Europa League im September 2022. Aber sonst seit dem 13. Februar 2022 daheim ungeschlagen. Wilde Feste und immer wieder die Gewissheit: Niemand kann uns etwas. Nicht die Bayern und auch nicht Ajax. Sie alle werden in diesem engen Stadion aufgerieben, prallen an der Mauer ab, die Union auch diesmal wieder aufgebaut hatte.
Nur einmal droht das Spiel zu kippen
In den ersten 20 Minuten spielte nur Ajax, trieb Union in die frühen Ballverluste. Die Gastgeber verteidigten tief, zogen sich mit allen Spielern bis fast an den eigenen 16er zurück und bekamen keinen Zugriff auf Dusan Tadic, der das Spiel der Niederländer orchestrierte, die Bälle verteilte und die Außen Steven Bergwijn und Steven Berghuis bediente. Union errichte eine Mauer, verteidigte immerhin im Strafraum gut organisiert. Doch nach vorne ging wenig zusammen. Die Verteidigung um Robin Knoche verlor Ball um Ball, doch die Gäste konnten in den entscheidenden Zonen wenig damit anfangen.
Während Union der Defensivsucht frönte und sich überhaupt erst ins Spiel finden musste, brachten sie über eine seltene Entlastung den Ball mit Gegnerberührung über die Grundlinie. Eckball, Kopfball Danilo Doekhi, Handspiel und nach langen VAR-Minuten sogar Elfmeter. Knoche traf, obwohl Ajax-Keeper Geronimo Rulli noch seine Hände an den Ball bekam, 1:0. Zurück auf die Posten in der Verteidigung. Bis Juranovic aus 20 Metern einfach draufhielt und Rulli schon wieder nur seine Hände an den Ball bekam, der aber durch die hindurch ins Tor flutschte. 2:0 und niemand wusste, wie das schon wieder passiert war.
Nur für einen kurzen Moment drohte das Spiel dann nach der Pause zu kippen. Die Fans hatten ihre Stadionwurst noch in der Hand, da traf Mo Kudus aus kurzer Distanz und brachte Ajax immerhin bis zur nächsten Ecke die Hoffnung zurück. Doch dann stieg Doekhi nach einer Juranovic-Ecke höher und besser als alle anderen und stellte den alten Abstand wieder her. Die Niederländer drückten weiter, gegen nun höher verteidigende Köpenicker. Sie wurden immer dann gefährlich, wenn sie den Ball nicht direkt in den Fuß ihrer Teamkollegen spielten. Wenn sie die Tiefe fanden, sich entweder über die Außen heranschlichen oder wie bei der besten Chance durch Kudus in der 61. Minute durch die Mitte kombinierten. Doch dann war die Luft raus. Die Becker-Konter begannen und das Spiel war für den Giganten aus den Niederlanden verloren.
Nächster Halt: Bayern München
Schon bald begann die Zeit, in der jeder gewonnene Zweikampf als Triumph zelebriert wurde. Als die gereckten Fäuste den Nachthimmel durchstachen und die Stimmen langsam an Kraft verloren. Als die ewigen Gesänge in lautes Geraune übergingen. Erschöpfung machte sich für einen Moment auch auf den Rängen breit. Auch dort hatten sie sich wieder verausgabt. Vereinsmitarbeiter brüllten bei jedem gegebenen Freistoß, purzelten in ihrer Leidenschaft beinahe die Ränge runter. Und dann war plötzlich alles still. Niemand wusste wieso. Gespenstische letzte Minuten verstrichen. Minuten, in denen nicht klar war, was passiert war. Auf dem Spielfeld ließen Ajax den Frust raus. Es war kein Fußball mehr. Tief in der Nachspielzeit streckte der Mexikaner Edson Alvarez erst Morten Thorsby nieder, pöbelte dann in alle Richtungen. Zwei Gelbe Karten binnen weniger Sekunden. Eine hatte es zu einem Feldverweis gebracht.
Auf den Tribünen war jetzt wieder Bewegung. Ein Notarzteinsatz auf der Waldseite hatte die Stille ausgelöst. Doch der war offenbar glimpflich abgelaufen, denn die Fans waren rechtzeitig zum Abpfiff wieder da. Längst stand auch die gesamte Union-Bank an der Seitenlinie. Und dann war es vorbei. Union hatte das bislang größte Spiel der Vereinsgeschichte mit viel Spielglück gewonnen. "Wir sind weiter", rief Stadionsprecher Christian Arbeit, die Fans setzten sich auf den Zaun, auf dem Platz kam es zu einem kurzen Handgemenge zwischen den Spielern beider Mannschaften. Doch dann waren sie vor der Waldseite und tanzten ausgelassen.
Als sich die Alte Försterei langsam leerte, stand Fischer vor den TV-Kameras und hinter ihm riefen sie seinen Namen. Er drehte sich um und konnte das alle nicht fassen. Die lange Tour, die im biederen Tabellenmittelfeld der zweiten Liga begonnen hatte, pausierte nun in diesem Moment, der nicht zu fassen war. "Wahnsinn", sagte Fischer erneut und richtete den Blick auf das nächste Spiel. Am Sonntag geht es zu den punktgleichen Bayern. Verlieren können sie dort nicht. Schon ein Punktgewinn aber würde den deutschen Rekordmeister ins Chaos stürzen.
Quelle: ntv.de