Reals rätselhafter Auftritt Völlig verwirrt
06.05.2021, 07:33 Uhr
Ratlos.
(Foto: imago images/PA Images)
Der Sieger der Champions League 2021 kommt aus England. Der FC Chelsea folgt Manchester City nach einem souveränen Sieg gegen Real Madrid ins Endspiel nach Istanbul. Der Weg dorthin ist für die Londoner überraschend unproblematisch.
Sergio Ramos war wieder da. Das ist für Real Madrid ja stets eine sehr gute Nachricht. Für die Gegner der Spanier zumeist das Gegenteil. Vor allem in der Champions League. Eine Statistik belegt die beeindruckende Relevanz des alten Abwehrchefs für den Erfolg der Königlichen. Seit der Saison 2018/19 (warum die Statistik dort ansetzt, unklar) hat Madrid 14 Königsklassen-Spiele mit Ramos bestritten, es gab eine Niederlage, 0,9 Gegentore und eine Siegquote von 71 Prozent. Das sind ziemlich herausragende Werte. Ebenso wie diese hier: In der gleichen Zeit hat Real 13 Spiele ohne den 35-Jährigen absolvieren müssen, sieben davon gingen verloren, 1,6 Tore fingen sich die Königlichen - die Siegquote sank auf 31 Prozent.
Nun, Sergio Ramos war also wieder da. Und mit ihm die Hoffnung der Madrilenen auf den Einzug ins Finale der Champions League deutlich gewachsen. Das 1:1 aus dem Hinspiel gegen den FC Chelsea, kein prima Ergebnis zwar, aber auch kein schlechtes. Alles offen also im zweiten Duell. Und weil alle großen und großartigen Kräfte der Königlichen kampfbereit waren, war die Lage für Real ja auch gut. Erfahrung, Qualität und Nervenstärke, das könnte schon reichen, um die taktisch zwar sehr guten, technisch noch besseren und blitzschnellen Londoner niederzuringen. Und außerdem ist Real immer noch Real. Dachte man jedenfalls. Denn nach der 0:2 (0:1)-Niederlage an der Stamford Bridge wurde dieses dominante Mindset an diesem Mittwochabend mächtig erschüttert.
Gnadenlos unterlegen war die Mannschaft von Trainer Zinedine Zidane gewesen. Und das nicht etwa, weil der starke und taktisch clevere FC Chelsea einen gigantösen Übertag erwischt hatte. Nein, dieses Real Madrid fremdelte vor allem mit sich selbst - und mit der Taktik ihres französischen Maestros. Dem war in der Vergangenheit ja häufiger mal vorgeworfen worden, zu starr an seinem System festzuhalten. Nun konnte er diese verbalen Attacken der Inflexibilität mühelos an sich abperlen lassen. Der Erfolg war da. Und wer Erfolg hat, der hat recht. Selbst wenn die Erfolge in seiner zweiten Ära nicht mehr ganz so groß sind, wie bei seinem ersten Engagement. Selbst, wenn der Fußball ohne Superstar Cristiano Ronaldo ein anderer ist. Mehr Arbeit, weniger Spektakel. Was in Madrid natürlich immer ein kleiner Affront gegen das Selbstverständnis des Klubs ist.
Was genau war eigentlich der Plan?
Nun hatte sich der Zidane überlegt, die Londoner mit einer Dreierkette um Ramos zu überraschen. Auf den Außenbahnen spielten Ferland Mendy (rechts) und Vinicius Junior (links). Mendy spielte eher defensiv, Vinicius Junior eher offensiv. Was genau der Plan hinter dieser Idee war, so richtig ersichtlich wurde das über die gesamten 90 Minuten nicht. Auch nicht für die eigenen Spieler, die wirkten bisweilen reichlich verwirrt. Besonders kolossal offenbarte sich das im Zentrum. Immer wieder öffneten sich da Räume, für die es nicht mal die einzigartigen Raumdeuter-Qualitäten eines Thomas Müller brauchte. Sie waren einfach da und das so offensichtlich, dass die Londoner mit all ihrem Tempo und ihrer technischen Brillanz einen Überfall nach dem anderen starteten.
Besonders überragend: N’Golo Kanté. Wie bereits im ersten Duell verdichtete der kleine Franzose nicht nur jeden Meter Raum im Mittelfeld, sondern saugte auch den Ball an sich und verteilte ihn prächtig. Die alten Granden aus Madrid, Toni Kroos und Luka Modrić, fanden dagegen keine Möglichkeit, Kanté die Lust am Spielen, die Lust am Verdichten zu nehmen. Sie hatten zwar gelegentlich den Ball, dann aber keine Idee. Anders als Kanté. Weil dieses Mal auch die Laufwege des im Hinspiel völlig verunsicherten Timo Werner stimmten, zog sich da ein tüchtiger Offensivsturm zusammen. Dem sich Ramos als Mittelmann in der Abwehr oft alleine entgegenwarf. Er tat das, wie er es immer tut. Mit robustem Einsatz und klugem Spiel. Aber gegen diese mächtige Überzahl, die sich da um ihn auftürmte, war auch er gelegentlich überfordert.
Dass dieses Spiel nur 2:0 ausging und eigentlich bis zur 85. Minute offen war, lag an dem gravierenden Chancenwucher, den sich die Londoner wieder erlaubten. Wie schon vergangene Woche. Dieses Mal stand indes nicht Werner im Zentrum, der im Hinspiel noch mit einem aberwitzigen Fehlschuss zum Deppen geworden war. Dieses Mal wucherte unter anderem sein Nationalmannschaftskollege Kai Havertz. Vor dem 1:0 setzte er einen Lupfer spektakulär an die Latte. Sein Glück: Werner war als einziger Fußballer durchgelaufen und versenkte den Abpraller per Kopf zur Führung. Auch in der zweiten Halbzeit scheiterte Havertz erneut am Aluminium. Dieses Mal per Kopf. Und ein drittes Mal vergab er frei stehend am stark parierenden Thibaut Courtois. All diese Szenen taugten nicht dazu, den deutschen 100-Millionen-Mann zum Deppen zu machen. Eher das Gegenteil war der Fall. Mit seiner technischen Raffinesse bereicherte er das Spiel der Londoner.
Nun, das Spiel blieb also offen. Chelsea weigerte sich weiter, die Entscheidung zu erzwingen. Zwei weitere Protagonisten der Abschluss-Phobie: Kanté und Mason Mount. Weil es also nur 1:0 stand, weil Real nur ein Tor zur Verlängerung brauchte und weil Karim Benzema in den ersten 45 Minuten zweimal angedeutet hatte, wie gefährlich er sein kann, wenn er nur ein My Platz bekommt - beide Male parierte Édouard Mendy herausragend - war die Sache für die Mannschaft von Thomas Tuchel jeder Zeit brisant. Trotz der eigenen Dominanz im Umschaltspiel und der beeindruckenden Souveränität in der Abwehr. Die Erlösung dann in Minute 85: Mount drückte eine schöne Vorarbeit des eingewechselten Christian Pulisic über die Linie -Finaleinzug perfekt, am 29. Mai geht's in Istanbul gegen Manchester City. Ramos konnte das überlegte Zuspiel auf Mount nicht verhindern. In der Mitte, man ahnt es schon, war dann zu viel Raum für den Torschützen. Nicht immer ist auf die Statistik Verlass.
Quelle: ntv.de