"Collinas Erben" sehen allerhand Warum Bayerns Neuer grundlos tobt
01.09.2014, 08:22 Uhr
"Dann ist es Handspiel": Manuel Neuer plauscht mit Linienrichter Thorsten Schiffner.
(Foto: imago/Team 2)
Weil sich die Fußballer des FC Schalke 04 durch ein Hand-Tor einen Punkt sichern, sind sie beim FC Bayern sauer - allerdings zu Unrecht. In Mainz merkt derweil niemand, dass ein Bundesliga-Debütant an der Pfeife amtiert. Und das famos.
Manuel Neuer machte nach dem Schlusspfiff aus seiner Verstimmung keinen Hehl. Was den Torwart des FC Bayern so ärgerte, war nicht nur der Punktverlust beim FC Schalke 04 an diesem zweiten Spieltag der Fußball-Bundesliga. Sondern auch und vor allem die Tatsache, dass Schiedsrichter Marco Fritz das Tor der Gastgeber durch Benedikt Höwedes zum 1:1 anerkannt hatte. Neuer hielt den Treffer nämlich für irregulär: "Der Ball geht von seiner Hand ins Tor, dann ist es Handspiel", sagte er. "Wenn ein Abwehrspieler auf der Torlinie den Ball mit der Hand abwehrt, gibt es Elfmeter."
Der Torschütze selbst war da ganz anderer Ansicht: "Wenn mir einer aus 30 Zentimetern Entfernung den Ball gegen die Hand schießt, kann mir keiner erzählen, dass es ein absichtliches Handspiel ist. Ich versuche einfach nur, Richtung Torlinie zu laufen und den Ball über die Linie zu drücken." Um die Frage zu beantworten, wer recht hat, muss man sich vergegenwärtigen, was sich an diesem Samstagabend nach gut einer Stunde auf Schalke zutrug: Eine Freistoßflanke der Hausherren in den Strafraum der Gäste lenkte der Münchner Verteidiger Dante unglücklich in Richtung eigenes Tor ab, wo Xabi Alonso, just aus Madrid eingetroffen, die Situation mit einer Grätsche zu klären versuchte. Dabei schoss er den Ball jedoch Benedikt Höwedes aus kürzester Distanz an die Hüfte, von wo das Spielgerät an Höwedes‘ linke Hand sprang und schließlich im Tor landete. Das Schiedsrichtergespann gab den Treffer ohne jedes Zögern und ließ sich auch durch die wütenden Proteste der Bayern nicht umstimmen. Höwedes habe sich einen unlauteren Vorteil verschafft, wandten viele Fans der Bayern ein. Regeltechnisch entscheidend ist jedoch ausschließlich die Frage, ob ein Handspiel absichtlich geschieht. Das zu erkennen, ist für einen Unparteiischen allerdings nahezu unmöglich - schließlich kann er nicht die Gedanken des betreffenden Spielers lesen.
"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.
Deshalb findet sich in der Regel 12 ("Verbotenes Spiel und unsportliches Betragen") eine Reihe von Anhaltspunkten, die zur fußballjuristischen Definition der Absicht beim Handspiel dienen: Geht beispielsweise die Hand oder der Arm aktiv zum Ball, dann liegt ein absichtliches Handspiel vor. Bewegt sich aber der Ball zur Hand oder zum Arm, sieht die Sache anders aus. Auch die Entfernung zwischen Gegner und Ball ist ein Kriterium, das heißt: Je geringer die Distanz, desto kürzer die Reaktionszeit - und desto unwahrscheinlicher ein absichtliches Handeln.
Von Bedeutung ist darüber hinaus die Hand- und Armhaltung. Entspricht sie in der fraglichen Situation einem normalen, fußballtypischen Bewegungsablauf, besteht für den Schiedsrichter kein Anlass, von einem absichtlichen Handspiel auszugehen. Wird jedoch beispielsweise ein Arm oder die Hand vor das Gesicht gehalten, über den Kopf gehoben oder vom Körper abgespreizt, um den Ball aufzuhalten, spricht man von einer "unnatürlichen Körperhaltung" oder einer "Vergrößerung der Körperfläche". Weitere Faustregeln, die den Referees vom DFB mit auf den Weg gegeben werden, lauten: Bekommt ein Spieler den Ball von hinten an die Hand oder den Arm, dann handelt er prinzipiell genauso wenig absichtlich wie ein Spieler, dem der Ball von einem anderen Körperteil an die Hand oder den Arm prallt.
Bewusst Spielräume und Grauzonen
Da Fußball ein Sport ist, dessen Regelwerk ganz bewusst Spielräume und Grauzonen gewährt, wird es auch beim Thema Handspiel immer wieder zu Grenzfällen und Uneindeutigkeiten kommen. Bei Benedikt Höwedes jedoch war der Fall vergleichsweise klar: Bewegungsablauf und Handhaltung waren fußballtypisch, es gab keine "Vergrößerung der Körperfläche", die Distanz zum Ball war sehr gering, und der Ball hüpfte auch noch von der Hüfte an Höwedes' Hand. Ein korrektes Tor also, selbst wenn Manuel Neuer das anders sieht. Und auch in einem anderen Punkt hat der Nationaltorhüter Unrecht: Würde ein Verteidiger auf die gleiche Art einen Treffer verhindern, in der Höwedes sein Tor erzielt hat, hieße die Entscheidung nicht Elfmeter, sondern Weiterspielen. Hand darf allerhand, könnte man also mit einem abgewandelten Skat-Bonmot konstatieren.
Ganz richtig lag an diesem Spieltag übrigens nicht nur Marco Fritz mit seiner Entscheidung, sondern auch ein Schiedsrichter-Novize in der höchsten deutschen Spielklasse: Sascha Stegemann aus Niederkassel bei Bonn zeigte bei seinem Bundesliga-Debüt im Spiel zwischen Mainz 05 und Hannover 96 eine überzeugende Vorstellung. Wohltuend zurückhaltend im Auftreten und mit einem sehr guten Spielverständnis ausgestattet, ließ er die faire Partie (es gab nur eine Gelbe Karte) laufen und entschied auch in kniffligen Situationen - dreimal forderten die Mainzer einen Foulelfmeter, dreimal verweigerte Stegemann zu Recht den Pfiff - durchweg korrekt. Seine Akzeptanz bei allen Beteiligten war zudem bemerkenswert gut. Dass hier ein Neuling pfiff, dürfte niemandem aufgefallen sein. Mehr kann man sich als Referee eigentlich nicht wünschen.
Quelle: ntv.de