"Nicht nur Autos klauen" Warum Polen fit für die EM ist
04.10.2011, 12:53 UhrHooligans, Verkehrsprobleme, Korruption - und die Stadien werden eh nicht rechtzeitig fertig. Was aus Polen an Nachrichten in Deutschland ankommt, lässt vermuten, dass die Fußball-Europameisterschaft dort und in der Ukraine im kommenden Jahr ein Desaster wird. Dabei spricht viel dafür, dass sich Europa auf ein Fest freuen darf. Ein Besuch.

Europas beste Fußballer können kommen: Das neue Stadion in Danzig ist fertig.
(Foto: picture alliance / dpa)
Der Weg zum Stadion ist, nun ja, nicht ganz so einfach. Zwar sind sie dabei, die Straßenbahn in Danzig zu renovieren, und die Linie vom Stadtteil Wrzeszcz zum Hauptbahnhof fährt auch prompt am Tag des großen Spiels wieder, mit nagelneuen Wagen. Nur zum Stadion kommt der Zuschauer nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Überall reißen sie alte Straßen auf und errichten neue, die Schienen müssen sie noch legen. Aber was ist schon ein halbstündiger Spaziergang von der S-Bahn-Station durch Letnica, vorbei an Baustellen, Autowerkstätten, einem Heizkraftwerk und Vorstadthäusern, bis schließlich die neue PGE-Arena in der Ferne ihren bersteinfarbenen Glanz im spätnachmittäglichen Sonnenlicht entfaltet? Bleibt die Frage: Ist Polen fit für die Fußball-Europameisterschaft?
Alles eine Frage des Blickwinkels, sagt Wojtek Siólkowski, Chef vom Dienst des öffentlich-rechtlichen Radio Gdansk. Auf dem Schreibtisch in seinem Büro steht eine Uhr, die die Stunden bis zum Eröffnungsspiel herunterzählt. "Ich kann auch einen Nachmittag durch Berlin spazieren und dann zu dem Schluss kommen, dass hier niemals eine EM stattfinden kann." Schließlich brennt in der deutschen Hauptstadt fast jede Nacht ein Auto, die S-Bahn fährt nur selten dann, wenn sie soll, eine Neonazi-Szene gibt es dort auch. Und erst jüngst haben sich Fans des Zweitligisten FC Union und der erstklassigen Hertha in Friedrichshain und Tiergarten geprügelt. Trotzdem kommt niemand auf die Idee, dass Deutschland kein großes Fußballturnier ausrichten kann.
"Gelegenheit, sich gut zu zeigen - vor der ganzen Welt"
Die Polen freuen sich auf ihre Europameisterschaft, die im kommenden Jahr vom 8. Juni bis zum 1. Juli in den neu erbauten Stadien in Wroclaw (Breslau), Poznan (Posen), Warschau und Gdansk (Danzig) stattfindet. Auch in der Ukraine gibt es vier Spielorte, das Finale findet in Kiew statt. Wojtek Siólkowski jedenfalls ist sich sicher: "Der größte Teil der polnischen Gesellschaft sieht die Europameisterschaft als Gelegenheit, sich gut zu zeigen - vor der ganzen Welt, nicht nur vor Europa. Deswegen glaube ich, dass sich alle bemühen werden."
Die Pläne klingen gigantisch, auch wenn jetzt schon klar ist, dass nicht alles bis zur EM fertig wird. Aber es hilft dem Land. 900 Kilometer Autobahn wollen die Polen bauen, 2100 Kilometer Schnellstraßen. Auch die Flughäfen in den Austragungsorten sollen dann neue Terminals haben, die Bahnhöfe sollen renoviert werden. Auf 96 Milliarden Zloty - umgerechnet knapp 24 Milliarden Euro - summieren sich die Investitionen.

Laut, leidenschaftlich - und friedlich: Zuschauer beim Länderspiel Polen gegen Deutschland.
(Foto: REUTERS)
Danzig jedenfalls hat den bestanden. Als die deutsche Nationalmannschaft dort Anfang September beim 2:2 zur Einweihung des nagelneuen Stadions zu Gast war, zeigten die 40.000 Zuschauer schon einmal, was EM-Stimmung in Polen heißt. Und die wenigen deutschen Fans durften erleben, dass es eine Alternative zur teils fußballfernen Partyatmosphäre bei Heimspielen der DFB-Elf gibt - laut, leidenschaftlich und bedingungslos. Die Gastgeber waren zufrieden, auch, weil sie die Partie zum Test in Sachen Sicherheit ausgerufen hatten. "Das Spiel verlief in einer Atmosphäre der Ruhe, der Vernunft und des gut verstandenen Sportsgeistes", teilte die Polizei in Danzig mit. Die Beamten hätten keine Zwischenfälle - weder im Stadion noch außerhalb der Arena - registriert. Für die Sicherheit der Spieler und Zuschauer sorgten 1600 Polizisten. Und nach der Partie schlenderten die Zuschauer wieder klaglos zurück zur S-Bahn-Station.
"Ligamannschaften sind ein anderes Thema"
Dennoch, es gibt in der polnischen Liga ein Problem mit der Gewalt auf den Rängen. Müssen die Besucher der Europameisterschaft nicht um ihr Wohlergehen fürchten? Nein, sagt Pawel Plecha, Sportredakteur bei Radio Gdansk: "Die Ligamannschaften sind ein anderes Thema. Solche Emotionen gibt es bei den internationalen Spielen nicht. Wenn es um die Sicherheit geht, das wird im Fall der Europameisterschaft alles völlig anders mobilisiert. Deshalb erwarten wir nicht, dass so etwas vorkommen kann."
Und sein Kollege Michal Gapski ergänzt: "Zu den internationalen Spielen kommt nur ins Stadion, wer sich wirklich für das Spiel interessiert, viele Familien. In der polnischen Liga sind es meist die Pseudo-Fußballfans, die vor allem trinken und Randale machen. Alles, was auf dem Spielfeld passiert, interessiert die nicht. Die interessieren sich eher für die anderen Fußballfans. Die Mannschaften spielen auf dem Platz gegeneinander - und die Fans kämpfen gegeneinander. Nationalmannschaft und Liga - das sind zwei verschiedene Welten."
"Fans können mit warmen Empfang rechnen"
Und so sehen die Polen mit gewissem Stolz und viel Vorfreude die Europameisterschaft vor allem als Chance, dem teils eine Realität entgegenzustellen, die die Vorurteile widerlegt. Pawel Plecha formuliert das so: "Dann können zum Beispiel viele Deutsche endlich sehen, dass die . Auf jeden Fall können die Fußballfans aus den anderen Ländern mit unserer Freundlichkeit und einem warmen Empfang rechnen. Wie das so bei uns ist."
Auch sein Chef Wojtek Siólkowski ist sich sicher: "Wenn es um das Zeigen geht, wenn Gäste da sind, funktioniert das in Polen anders als normal. Ich kann mit dem Nachbarn streiten, ich kann mit meiner Familie nicht so ganz zurechtkommen, ich kann bei der Arbeit Probleme mit den Kollegen haben - aber wenn die Gäste kommen, dann muss ich mich natürlich zeigen."
Der einzige Totalausfall beim Länderspiel in Danzig war übrigens der Übertragungswagen des ZDF. Ein Kurzschluss hatte ihn in gesetzt. Moderatorin Kathrin Müller-Hohenstein und Experte Oliver Kahn wurden kurzerhand in den Flieger gesetzt, um die Begegnung von Mainz aus zu analysieren. Die Bilder aus dem Stadion lieferte das polnische Fernsehen. Wojtek Siólkowski sagt dazu nur: "Jetzt stellen sie sich die Schlagzeilen vor, wenn das den Polen in Deutschland passiert wäre." Alles eine Frage des Blickwinkels.
Quelle: ntv.de