Redelings Nachspielzeit

"Schlimmer als Geiselnahme" Als die Bundesliga ganz knapp vor dem Abgrund stand

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Die Käuflichkeit der Bundesligaspieler in den 70ern wurde zum Skandal.

Heute kaum mehr vorstellbar: In der Spielzeit 1971/72 schlittert die Bundesliga trotz spektakulärer sportlicher Leistungen dem tiefen Fall entgegen. Der Skandal ist für einen Beteiligten sogar schlimmer als seine spätere Geiselnahme durch Terroristen. Bei den Bayern geht der BVB damals legendär unter.

Der FC Bayern München spielte eine überragende Runde - und wurde doch bis zum letzten Spieltag von der Schalker "Jahrhundertelf" gejagt. Den königsblauen Jungspunden blieb am Ende dieser tollen Saison wenigstens der Gewinn des DFB-Pokals, denn am letzten Spieltag mussten sie sich den Münchnern im großen Finale im Olympiastadion mit 5:1 geschlagen geben. Das letzte Tor der Bayern an diesem Tag schoss Franz Beckenbauer. Es war das 101. Saisontor der Münchner. Ein Torrekord für eine halbe Ewigkeit, für den vor allem ein Mann verantwortlich war: Gerd Müller. Der "Bomber der Nation" machte in diesem Jahr seinem Namen alle Ehre und stellte mit seinen 40 Treffern ebenfalls eine Bestmarke auf, die erst viele, viele Jahre später von Robert Lewandowski übertroffen werden sollte.

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Udo Lattek versprach damals im Angesicht seiner ersten Meisterschaft im "Aktuellen Sportstudio", beim Gewinn des Titels mit dem FC Bayern werde er zu Fuß von Nürnberg nach München laufen. Als die Bayern nun wenige Tage später tatsächlich die Meisterschale holten, wollten sich die Fans mit Lattek auf den Weg machen, doch der muss leider kneifen: Der Arzt habe ihm abgeraten, erklärte der Trainer. Die Bayern-Anhänger liefen trotzdem los - und Lattek spielte in München lieber einige Runden Tennis mit ein paar Spezis. Das kam nicht sonderlich gut an bei den Fans, wurde aber angesichts dieser herausragenden Saison schnell vergessen.

Gerne vergessen hätte auch die Liga ihren Skandal - doch das ging natürlich nicht. Die Deutschen hatten in diesen Tagen und Wochen mehrheitlich die Schnauze voll von der Bundesliga. Der Wirren um die Spiel-Manipulationen überschatteten die Saison auf allen Ebenen. Vor allem die Schatzmeister der Vereine litten. Rund sechs Millionen Mark weniger nahmen sie ein, insgesamt kamen unglaubliche 892.690 Zuschauer weniger zu den Begegnungen der ersten Liga als ein Jahr zuvor. Im Schnitt gerade einmal noch 17.932 Besucher pro Partie.

"Der Skandal war viel schlimmer"

Die Abwärtsspirale wurde permanent geölt durch immer neue Enthüllungen und einen dadurch intensiv geführten Negativ-Journalismus des größten deutschen Boulevardblatts. Hatte die "Bild" in den Jahren zuvor die Bundesliga noch hoch geschrieben, versuchte sie nun über Skandalstorys Auflage zu machen. Sie sprach von der "größten Pleite seit der Gründung der Liga" und hatte so maßgeblichen Anteil am wachsenden Desinteresse der Fußballanhänger an ihrer immer noch recht jungen Bundesliga. Das Sportliche geriet für eine Spielzeit ins Abseits - dabei boten die Vereine eine durchaus spektakuläre Saison.

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Horst-Gregorio Canellas, der Mann, der den ganzen Skandal an seinem 50. Geburtstag auf einer Gartenparty ins Rollen gebracht hatte, sollte einige Jahre später zusammen mit seiner Tochter auf dem planmäßigen Flug von Mallorca nach Frankfurt in dem berühmten Flugzeug "Landshut" sitzen, das Terroristen entführten und das schließlich in Mogadischu befreit wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte er eine schwere Tbc-Erkrankung hinter sich und war vom Leben gezeichnet. Rückblickend sollte er über die Flugzeug-Entführung sagen: "Der Skandal war schlimmer, viel schlimmer. Mogadischu hatte noch menschliche Züge."

Torhüter Manfred Manglitz kannte trotz der Geiselnahme durch Terroristen kein Erbarmen mit Canellas - sondern sah nur sich, das arme Opfer Manglitz: "Wissen Sie, als der Canellas aus Offenbach in der Maschine saß, die nach Mogadischu entführt wurde, da habe ich gedacht: Ich bin ja kein gläubiger Mensch, aber wenn es wirklich einen lieben Herrgott gibt, dann kennt der Gerechtigkeit. So, wie mich dieser Canellas damals hereingelegt hat …!"

Bielefeld bekommt alle Punkte aberkannt

Für ein wenig Ablenkung und Unterhaltung sorgte in Frankfurt das Enfant terrible Thomas Rohrbach. Ein Spieler, der durchaus die klare Ansprache liebte. Seinem Trainer Erich Ribbeck hielt er vor: "Sie schleifen uns die ganze Woche die Eier, und am Samstag erwarten Sie ganze Kerle auf dem Platz." Das ging so natürlich nicht. Und als er für den "Playboy" in Sachen Sexualität ein wenig intimer wurde, rief man in Frankfurt sofort den Eintracht-Ältestenrat ein. Sehr zum Unverständnis von Rohrbach: "Ich hab nur gesagt, dass ich mir einen runterhole, wenn ich Überdruck habe. Da waren die alle sauer, und ich musste wieder zu dieser komischen Sitzung. Der eine wollte mich gleich zum Psychiater schicken." Aber es war wohl auch nicht immer ganz einfach, mit dem Spieler Rohrbach und seinem Kompagnon Gert Trinklein (der Name ist in diesen Jahren durchaus Programm) klarzukommen.

Zum Autor
  • Ben Redelings ist ein Bestseller-Autor und Komödiant aus dem Ruhrgebiet.
  • Sein aktuelles Buch "60 Jahre Bundesliga. Das Jubiläumsalbum" ist ein moderner Klassiker aus dem Verlag "Die Werkstatt"

  • Mit seinen Fußballprogrammen ist er deutschlandweit unterwegs. Infos & Termine auf www.scudetto.de.

Beide liebten das Nachtleben. Und Ribbeck machte es ihnen auch leicht, bat er doch erst nachmittags zur Übungseinheit. Wie simpel man dieses Problem löste, bewies der neue Trainer Dietrich Weise. Rohrbach war total angetan von dessen Disziplinwelle: "Der hat einfach morgens um neun trainiert. Und jetzt geh mal bis vier weg, und dann macht der eine Konditionsüberprüfung. Nee, kannste vergessen!"

Zurück zum Bundesliga-Skandal. Am 15. April wurde der Entschluss des DFB rechtskräftig, dass Arminia Bielefeld alle Punkte wegen nachgewiesener Korruption aberkannt wurden und somit in die Regionalliga zwangsabsteigen mussten. Bielefeld spielte die Saison "regulär" durch und hatte am Ende nur einen Punkt weniger auf dem Konto als der Mitabsteiger Borussia Dortmund. Beim Gewinner des Europapokals der Pokalsieger von 1966 hatte die finanzielle Krise erbarmungslos zugeschlagen. Der Notkader absolvierte eine katastrophale Runde mit einem absoluten Tiefpunkt am 16. Spieltag. 11:1 verlor man bei Bayern München, und die BVB-Anhänger sangen mit Tränen in den Augen: "Oh, tun mir die Augen weh, wenn ich die heutige Borussia seh!" Wie sich die Zeiten ändern.

Quelle: ntv.de

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