Redelings Nachspielzeit

"Spielte wie in Trance!" Das kurioseste Doppel-Torwart-Debüt der Bundesliga

Torwart Dirk Drescher (Mitte) wird von Walter Oswald (li.) und Co-Trainer Erich Klamma (alle Bochum) gefeiert.

Torwart Dirk Drescher (Mitte) wird von Walter Oswald (li.) und Co-Trainer Erich Klamma (alle Bochum) gefeiert.

Das hat es vorher und nachher in der über 60 Jahre währenden Geschichte der Fußball-Bundesliga nie wieder gegeben. Am 10. August 1985 kam es in Nürnberg zu einer kuriosen Doppel-Premiere zweier junger Torhüter. Für beide sollte die ganz große Karriere ausbleiben.

Schultereckgelenksprengung. Die Diagnose tat schon beim Hören weh. Schnell stand fest: Torhüter Ralf Zumdick, den sie bis heute alle nur "Katze" nennen, würde ausfallen - und das viele Wochen lang. Trainer Rolf Schafstalls Laune sackte weit unter den Nullpunkt. Wieder einmal war der VfL Bochum in eine neue Spielzeit gegangen, an dessen Ende nur ein Ziel stand: Klassenerhalt. Doch nun sollte ausgerechnet der bewährte Stammkeeper Zumdick ausfallen - und das direkt zum Saisonstart.

Jetzt rächte es sich, dass man nach dem Abgang von Reinhard Mager zu Blau-Weiß 90 Berlin keinen richtigen Konkurrenten für Zumdick verpflichtet hatte. Nun würde Nachwuchskeeper Marcus Croonen ranmüssen, ohne einen einzigen Einsatz zuvor in der Bundesliga. Ein echtes Risiko - wie sich schon nach wenigen Minuten nach Beginn der Partie beim 1. FC Nürnberg herausstellen sollte.

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Denn Marcus Croonen kam in seinem Debüt im Dress des VfL Bochum gerade einmal bis zur 25. Minute. Dann säbelte der Nachwuchstorwart den Nürnberger Reiner Geyer übereifrig von den Beinen und flog unter Tränen vom Platz. Was kaum einer im Stadion wusste - es war ein historischer Moment. Es war der erste Platzverweis für einen Torhüter, der gerade sein erstes Bundesligaspiel bestritt, überhaupt. So etwas hatte es in der langen Geschichte der Bundesliga zuvor noch nicht gegeben. Ein Rekord, auf den die VfL-Verantwortlichen an diesem Nachmittag im August 1985 aber natürlich gerne verzichtet hätten.

Trainer kennt nicht mal den Vornamen

Doch wenigstens waren sie auf den unwahrscheinlichen Fall, dass der VfL noch einen weiteren Keeper benötigen würde - schließlich hatte Ralf Zumdick in der Spielzeit zuvor alle 36 Partien im Kasten gestanden - vorbereitet. Und so hatte man am späten Vormittag dieses denkwürdigen Tages beim DFB eine Spielberechtigung für einen jungen Mann aus der Bochumer A-Jugend eingeholt. Den Namen kannten nur absolute Vereinsinsider. Dirk Drescher hieß der Nobody, der zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 17 Jahre, 5 Monate und 13 Tage jung war.

Doch zurück ins Nürnberger Frankenstadion. Zurück zur 25. Minute der ersten Partie der beiden Klubs in der noch komplett neuen Saison. Zurück in einen Moment der Stille. Bochum und ganz besonders sein Trainer waren konsterniert ob der völlig unvorhergesehenen Ereignisse. Doch schließlich schüttelte sich der VfL-Coach Rolf Schafstall einmal kräftig durch, schaute betreten Richtung Auswechselbank, nahm Stürmer Stefan Kuntz vom Platz und nickte dann dem nervös vor sich hinstarrenden Dirk Drescher zu. Ihn persönlich anzusprechen, traute sich der Trainer nicht, denn Schafstall wusste nicht einmal den Vornamen seines Ersatzkeepers.

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Der siebzehnjährige Gymnasiast stand zitternd auf, blickte auf den Boden und deutete stumm auf seine Fußballtreter. "Ich war mit einem Male so nervös, dass ich es nicht schaffte, meine Fußballschuhe zuzubinden", erinnert sich der Torwart noch heute schmunzelnd an diesen ganz besonderen Moment. Routinier Heinz Knüwe fackelte nicht lange, ging in die Hocke und knotete eine Doppelschleife. Währenddessen erkundigte sich Kapitän Klaus Fischer nach Dreschers Vornamen und Routinier Ata Lameck klopfte in einer Tour dem Keeper - und auch ein bisschen sich selbst - mutmachend auf die schmalen Schultern.

"Ich hatte es auch bitter nötig"

Dirk Drescher konnte sich ebenfalls an das Schulterklopfen seiner Mannschaftskameraden erinnern und meinte später einmal dankbar über diese ersten Minuten seines Debüts: "Ich hatte es auch bitter nötig. Nach den ersten Bällen, die ich sicher in den Händen hielt, bekam ich die Sicherheit, die ich benötigte. Danach spielte ich wie in Trance." Und es sollte tatsächlich ein rauschhafter Nachmittag für alle Bochumer werden.

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Denn als der VfL Bochum nach neunzig Minuten und nach einem durch und durch unansehnlichen Spiel überraschend mit 1:0 beim Club gewonnen hatte, schien es für einen Augenblick tatsächlich so, als sei ein neuer Stern am Torwarthimmel geboren. Doch der Nürnberger Trainer Heinz Höher kritisierte eher seine Mannschaft, als den jungen Keeper des VfL in den Himmel zu loben. "Wir waren doch nicht einmal in der Lage, einem 13- oder 14-jährigen Knaben einen Ball ins Netz zu setzen", ordnete er voller Sarkasmus die Leistung des von den Medien zum Titelhelden gemachten Nachwuchstorwarts kopfschüttelnd ein.

Auch in Bochum sah man die Dinge ähnlich und verpflichtete über Nacht den alten Gladbacher Meisterspieler Wolfgang Kleff als neue Nummer eins. Rotsünder und Debütant Marcus Croonen kam in seiner Karriere nur noch zu drei weiteren Einsätzen beim VfL Bochum und auch für Dirk Drescher blieb der Traum Fußball-Bundesliga eine 65-minütige Episode ohne Wiederholung. Er selbst sah irgendwann schweren Herzens ein, dass der Sprung in die Bundesliga einfach zu groß gewesen wäre. Und so wurde er nach einigen Jahren bei unterklassigen Vereinen schließlich Polizist. Doch die Erinnerung an diesen ganz besonderen Tag, als in Nürnberg mit einem Doppel-Debüt auf der Torhüter-Position Bundesliga-Geschichte geschrieben wurde, möchte er natürlich nie missen.

Quelle: ntv.de

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