Fußball-WM 2018

Brasiliens Traum ist geplatzt Fußball wird wieder Nebensache

Sie wollten ihren sechsten WM-Titel holen. Jetzt stehen die Brasilianer vor den Trümmern ihres Traums.

Sie wollten ihren sechsten WM-Titel holen. Jetzt stehen die Brasilianer vor den Trümmern ihres Traums.

(Foto: REUTERS)

Ende, aus, vorbei. WM-Kater statt Rekordtitel, nationale Tragödie statt Samba-Party. Ganz Brasilien weinte nach der historischen 1:7- Demütigung der Seleção durch Deutschland. Knapp drei Monate vor den Wahlen wird die Schande auch für Präsidentin Rousseff zur Last.

"Schande": Die Titelseite von "Super NOticia" aus Belo Horizonte verulkt die Hexa.

"Schande": Die Titelseite von "Super NOticia" aus Belo Horizonte verulkt die Hexa.

Der Rausch ist vorbei. Wie nach einer durchzechten Nacht erwachten die Brasilianer am Tag danach verkatert. Verlieren ist eine Sache. Aber mit 1:7? Die meisten der 200 Millionen Brasilianer empfanden die historische WM-Demontage gegen Deutschland als nationale Tragödie, auch weil der "Hexa" zur patriotischen Mission stilisiert wurde. 1:7! Kein Finale mehr, kein "Hexa" - der Traum vom sechsten WM-Titel ist aus.

Nach fast vier Wochen Dauerparty, wo schon spielfreie Tage zur Qual wurden, blieb als einziges Gefühl: absolute Leere. Der in rund 90 Tagen vor Wahlen stehenden Regierung schwant, dass dieses Vakuum nicht lange bleibt. Wenn Fußball wieder Nebensache wird, werden die Alltagsprobleme der Menschen wieder zur Hauptsache. Das ganze Land ist traumatisiert. "Ein Horrorfilm" schrieb das Blatt "Extra". Die Zeitung "Hora" machte mit einer schwarzen Titelseite und wenigen Worten auf: "Ewige Schande." Für die Sportzeitung "Lance!" ist die Seleção "Für immer gezeichnet". Die Titelseiten der Zeitungen glichen Traueranzeigen.

"Wir holen den Hexa in Russland"

Vereinzelte Ausschreitungen im ganzen Land und Bilder von brennenden Bussen in São Paulo begleiteten die kollektive Katerstimmung. Selbst die krisenerprobte Präsidentin war ungläubig. "Wie alle Brasilianer bin ich sehr, sehr traurig über die Niederlage. Es tut mir immens leid für uns alle, für die Fans und unsere Spieler", twitterte Dilma Rousseff nach der Abreibung. Ihr Aufruf zu einer Trotzreaktion verhallte wirkungslos: "Aber wir lassen uns nicht brechen. Brasilien, schüttel' den Staub ab und steh wieder auf."

Auch der Trost von Brasiliens Jahrhundertfußballer Pelé klang wenig überzeugend: "Wir holen den sechsten Titel in Russland (WM 2018). Glückwunsch Deutschland!", twitterte die ernüchterte Legende. Viele Brasilianer suchten sich in ihrer Fassungslosigkeit, Trauer und Wut den lange verehrten Nationaltrainer Luiz "Felipão" Scolari als Ziel. "Fahr zur Hölle, Felipão! Er verdient fast eine Million Reais (333.000 Euro) im Monat, ist der größte Werbestar des Landes, hat nicht trainiert, schlecht aufgestellt und falsch eingewechselt. Er war verantwortlich für die schlimmste Demütigung der Seleção in über einem Jahrhundert Geschichte", wetterte die Zeitung "O Dia".

Busse in Brand, Geschäft geplündert

Sicher, in Brasilien wird manchmal schnell und mit viel Herzblut geschrieben, vor allem wenn die Fußball-Seele derart verletzt wurde. Doch Scolari, der alles gab und auch die Schuld auf seine Schultern nahm, ist nicht der alleinige Sündenbock. "Das ist Sport. Das ist Fußball. Aber es ist schwer, auf diese Weise zu verlieren", sagte Brasiliens bekanntester TV-Moderator Galvão Bueno und ließ eine Fernsehszene von einem herzzerbrechend weinenden brasilianischen Jungen einblenden. "Wie lange wird es wohl dauern, bis er sich davon erholt", fragte Galvão.

Irgendwann, nach einigen Schuldeingeständnissen und Entschuldigungen an das gesamte Land, sagte Scolari den Satz: "Das Leben geht weiter." Aber nicht überall in Brasilien ging das Leben nach dem Debakel friedlich weiter. Bei den Fan-Festen in Rio de Janeiro und Belo Horizonte gab es nach dem Spiel Schlägereien und Zusammenstöße mit der Polizei, in São Paulo wurden nach Medienberichten 23 Busse in Brand gesetzt und ein Geschäft für Elektrogeräte geplündert. Absolut nichts Dramatisches für brasilianische Verhältnisse - und doch passend zur allgemeinen Schockstarre.

Rousseff posiert peinlich

Auch Rousseff konnte - wie so viele Politiker - der Versuchung nicht widerstehen, den hart erkämpften Erfolg der Seleção bis zu diesem denkwürdigen Halbfinal-K.o. gegen "Alemanha" für ihre Imagepflege zu auszunutzen. Die bemühte Pose der 66-Jährigen, die mit der Siegergeste des verletzen Neymar (Faust auf Unterarm zum "T" geformt), punkten wollte, war allerdings doch eher peinlich. Die Staatschefin bezeichnete die Spieler als "Krieger" in einer "Schlacht". Sprach von Stolz und Vaterland und der großen Nation und geißelte die WM-Pessimisten.

Hoch gespielt, hoch verloren. "1:7!" Natürlich hat die Präsidentin nicht das Halbfinale verloren. Sie war wie bei den meisten Spielen nicht mal im Mineirão-Stadion von Belo Horizonte, dem - wie Medien schrieben - Schauplatz der "historischen Demütigung". Sie sah sich das Spiel in ihrer Residenz, dem Pálacio de Alvorada, in Brasília an. Ob sie am Samstag - bei Brasiliens letztem WM-Heimspiel um Platz drei - ins Mané-Garrincha-Stadion von Brasília geht - wer weiß es? Aber am Sonntag muss sie in Rios Maracanã, um dem Kapitän des neuen Weltmeisters den Pokal zu überreichen. Dann schlägt auch für sie die Stunde der Wahrheit. Mehr als einmal gab es in den Stadien gellende Pfiffe und Buhrufe für die Staatschefin. Kein gutes Bild in der laufenden Wahlkampfkampagne.

Auch Rousseff musste bissige Kommentare in der Presse ertragen, die nach der 1:7-Desaster Parallelen zog zur schmerzhaften 1:2-Niederlage Brasiliens gegen Uruguay bei der ersten Heim-WM 1950 - ein als Maracanaço bekanntes Trauma. "Der größte WM-Gewinner hat sich gekrümmt. Er wurde zu Hause gedemütigt. Und das mit erlesener Grausamkeit", textete "O Dia" emotional. "Der Schmerz von 1950 wiederholt sich 2014. Die Wunde ist offen und es wird dauern, bis sie verheilt ist."

Quelle: ntv.de, Helmut Reuter, dpa

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