"Es hört einfach so auf" DHB-Team beendet eine der größten Geschichten unserer Zeit

Der olympische Katastrophenfall ist für die französische Handball-Nationalmannschaft eingetreten: Der Titelverteidiger verliert gegen Deutschland ein Spiel, das eigentlich nicht mehr zu verlieren war. Das hat nicht nur emotionale Folgen.

"Es müsste schon eine Katastrophe passieren, damit Deutschland den Ausgleich erzielt", beschreibt die französische Zeitung "L'Équipe" die Ausgangssituation, in der eines der größten sportlichen Wunder der jüngeren Handball-Geschichte seinen Lauf nimmt. 13 Sekunden vor dem Ende des olympischen Viertelfinals liegt die deutsche Mannschaft gegen Frankreich, den Europameister, den Titelverteidiger, den Gastgeber, den 27.000 Menschen nach vorne peitschen, nach einem turbulenten Spiel mit zwei Toren zurück. Sechs Sekunden vor dem Ende ist es noch eines, doch die Franzosen sind in Ballbesitz.

Dika Mem, einer der besten Spieler der Welt, der bis dahin zehnmal getroffen hatte, hat den Ball in der Hand. Doch anstatt ihn zu einem Mitspieler, mit der vollen Kraft seines maschinenartigen Körpers auf die Tribüne oder an jeden anderen Platz in der Halle zu werfen, um das Spiel damit zu beenden, wirft er ihn in die Hand des deutschen Riesen Julian Köster. Sekundenbruchteile später hämmert der überragende Renars Uscins das DHB-Team in die Verlängerung. Der Katastrophenfall aus französischer Sicht ist doch eingetreten. Wenige Minuten später feierte die deutsche Mannschaft ihren größten Sieg seit der olympischen Bronzemedaille von Rio 2016.

Die Franzosen, die sich erst im letzten Spiel der Gruppenphase überhaupt in die K.-o.-Runde gerettet hatten, schienen im umfunktionierten Fußballstadion von Lille zu alter Stärke zurückgefunden zu haben: 20:14 führten sie kurz nach der Halbzeit. Die Dinge schienen geregelt für diese große Generation des Handballs, die nun auseinanderfällt. Die Katastrophe beendete die großen internationalen Karrieren von Nikola Karabatic, Hugo Descat, des überragenden Torwarts Vincent Gérard oder Valentin Porte - allesamt Weltmeister, Olympiasieger, Europameister.

"Schwerer Schlag"

Sie waren auf einer letzten großen gemeinsamen Mission. Und sie standen doch schon mit mehr als einem Bein im Halbfinale. Dann kam Mem und alles ging den Bach runter. "Es ist ein Gefühl der Schuld. Es war ein Spiel, das wir hätten gewinnen müssen. Das ist natürlich hart für mich", sagte der niedergeschlagene Weltklassespieler, der die deutsche Abwehr zuvor beinahe das gesamte Spiel über vor unlösbare Probleme gestellt hatte. "Es ist ein Gefühl, das ich noch nie hatte und das ich niemandem wünsche. Ich werde daraus lernen und zu dem Fehler stehen, den ich gemacht habe." Auch Mem ist schon Olympiasieger, Welt- und Europameister. Er hat den größten Teil seiner Laufbahn noch vor sich.

Aber in der anschließenden Verlängerung traf der Rückraumstar des FC Barcelona dann kein einziges Mal. Er sei "eine ganze Weile auf den Fehler fokussiert" gewesen, sagte der 26-Jährige, dem Trainer Guillaume Gille trotzdem über nahezu die gesamte Spielzeit bis zum bitteren Ende das Vertrauen schenkte. "Trotz allem, was meine Teamkollegen mir sagten - im Spiel zu bleiben, dass es noch nicht vorbei ist, dass wir noch zweimal fünf Minuten haben - war es schwer. Das war ein schwerer Schlag."

"Wir führen mit zwei Toren wenige Sekunden vor Schluss und dann kommt diese Wendung. Das ist unglaublich. In diesem Moment gibt es eine einprozentige Chance, dass Deutschland zurückkommt und gewinnt. Es ist einfach verrückt, sich das vorzustellen, und gleichzeitig haben wir bei der EM das umgekehrte Szenario erlebt, also werden wir uns nicht beschweren", zeigte Nikola Karabatic, der dreifache Olympiasieger, vielfache Welthandballer und Weltmeister, im letzten Spiel seiner großen Laufbahn Größe. Bei der Europameisterschaft in Deutschland hatte Frankreich im Halbfinale mit einem verwandelten Freiwurf nach Ablauf der Spielzeit gegen Schweden noch den Ausgleich erzielt - und holte sich später den Titel. Trotzdem: "Grausam" sei der Moment, sagte der 40-jährige Superstar. "Es ist schrecklich, so einen Schicksalsschlag zu bekommen. Wir müssen es akzeptieren. So ist der Sport, so ist das Leben".

"Es hört einfach so auf"

Statt im Halbfinale, das ja auch nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zum finalen Triumph einer goldenen Generation sein sollte, landete Frankreich für einen olympischen Moment im Tal der Tränen. "Es wird etwas Zeit brauchen, um das zu verdauen, sich zu beruhigen und auch auf all das zurückzublicken, was diese französische Mannschaft erreicht hat", sagte Luka Karabatic, der jüngere Bruder von Nikola Karabatic. Auch er ist Teil des Teams, das Titel um Titel gewann.

Der Abwehrspezialist gab sich noch in der Trauer trotzig. "Diese französische Mannschaft wird wieder aufblühen, das ist sicher. Es wird neue glückliche Tage für dieses Team geben". Allein: Diese Tage scheinen in diesen Stunden noch unendlich fern. "Es war mein letztes Spiel in der französischen Nationalmannschaft, das ist hart. Es fühlt sich komisch an, dass es plötzlich so aufhört", sagte Rechtsaußen Valentin Porte. "Es wird keine Medaille geben, es wird keine 200 Länderspiele für mich geben. Es hört einfach so auf".

Die junge deutsche Nationalmannschaft, bei der der 22-jährige Renars Uscins 14 Tore erzielte und der 22-jährige David Späth mit einer finalen Parade gegen Porte das deutsche Handball-Wunder sicherte, beendete im größten Spiel ihrer jüngeren Historie die Geschichte eines der größten Sportteams unserer Zeit. Deutschland war mit gleich neun Olympia-Debütanten angetreten gegen dieses Team der erfolgsverwöhnten Haudegen, das immer dann gnadenlos performte, wenn es etwas zu verteilen gab ... Seit 2008 hatten die Franzosen dreimal olympisches Gold geholt, wurden viermal Weltmeister und dreimal Europameister. Nun ist es für ihre große Generation vorbei. Es ist für Frankreich eine stille Katastrophe.

Quelle: ntv.de

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