Wahnsinnssieg gegen Ovtcharov Felix Lebrun ist geboren, das Unvorstellbare zu schaffen

Mit 17 schon ein Gigant: Felix Lebrun.

Mit 17 schon ein Gigant: Felix Lebrun.

(Foto: REUTERS)

Dimitrij Ovtcharov hat keine Chance mehr auf seine dritte olympische Einzelmedaille. Der Tischtennisprofi verliert gegen Frankreichs Supertalent Lebrun nach großem Kampf. Das Spiel ist ein riesiges Spektakel mit wilden Wendungen auf beiden Seiten.

Wieder ist Dimitrij Ovtcharov Protagonist in einem großen, olympischen Tischtennis-Spektakel und wieder ist er der Geschlagene. Drei Jahren nach seiner unfassbaren Halbfinal-Niederlage gegen die chinesische Legende Ma Long - einem der besten Duelle, die es in dieser Sportart je gab - verliert der deutsche Star in Paris gegen das französische Wunderkind Felix Lebrun in sieben dramatischen Sätzen. Ovtcharov liegt mit 0:3 nach Sätzen hinten, gleicht aus und verliert doch gegen den entfesselt spielenden 17-Jährigen.

Als die Dinge nach gut einer Stunde erledigt waren, als Ovtcharov niedergerungen worden war, saß er neben Bundestrainer Jörg Roßkopf und wirkte erst gar nicht so sehr enttäuscht, wie er es angesichts des aberwitzigen Spielverlaufs hätte sein können. Schließlich hatte er, der 35-Jährige, gegen den Kerl verloren, der geboren scheint, das Tischtennis über Jahre zu beherrschen. Der geboren scheint, das Unmögliche zu schaffen, die absurde Dominanz der Chinese zu durchbrechen. Seit 2008 beim Heimspiel in Peking haben sie jede olympische Goldmedaille im Einzel der Männer und insgesamt 32 der 37 Entscheidungen gewonnen. In der Weltrangliste ist Lebrun jetzt schon der beste Spieler, der nicht aus dem Reich der Mitte kommt.

Nach den ersten drei Sätzen sei "die Anspannung etwas abgefallen", sagte Ovtcharov später. "Ich war so extrem im Tunnel, es war laut, aber es war schön, das hat mich nicht abgelenkt", sagte er zu der ohrenbetäubenden Kulisse. "Jetzt bin ich sehr, sehr traurig. Ich wollte wieder eine Medaille holen, das hat nicht geklappt, jetzt bin ich sehr enttäuscht." Bundestrainer Jörg Roßkopf lobte den Gegner. "Das war ein Weltklassespiel auf richtig hohem Niveau. Felix hat dem Druck standgehalten." Aber auch sein Schützling habe "seine Chancen" gehabt. Und es waren nicht wenige. "Im siebten Satz hatte er einen schlechten Start, dann war Felix' Vorsprung zu groß."

Gigantischer Hype um das Wunderkind

In Frankreich hatte Lebrun, der mit Alexis (20) einen ebenfalls höchst talentierten Bruder hat, einen gigantischen Boom ausgelöst. Bis zu 10.000 Neuanmeldungen soll es in den Vereinen in Frankreich gegeben haben. Manche wissen offenbar gar nicht mehr, wann und wo sie trainieren sollen. Die Hallenkapazitäten sind erreicht. Der Hype um dieses Ausnahmetalent, das schon als Dreijähriger mit dem Tischtennisspielen begann, ist gigantisch. Er wird schon mit jenem um Kylian Mbappé verglichen, dem Fußball-Superstar. Das scheint ein bisschen drüber. Aber zum Beweis für die Anziehungskraft des blonden Jungen mit der Brille war Legende Zinedine Zidane zu Gast. Ein Ritterschlag. Lebrun kommt aus einer Tischtennis-Dynastie. Sein Vater und sein Onkel spielten bereits, sein Onkel war sogar 14. der Weltrangliste. Ein Teamkollege seines Vaters war es wiederum, von dem sich Lebrun die Penholder-Haltung abschaute. Dabei umschließen Daumen und Zeigefinger den Schlägergriff, die anderen Finger werden aufstützend auf die andere Schlägerseite gelegt. Diese Haltung ist in Europa eher untypisch.

Und Lebrun legte einen wahnsinnigen Start ins Match hin. Es kam so, wie Ovtcharov befürchtet hatte. "Er ist am Anfang des Spiels immer sehr stark, weil er so variantenreich spielt. Die Gegner haben es schwer, ins Spiel zu kommen. Es wird entscheidend sein, gut reinzukommen. Wenn mir das gelingt, dann bin ich guter Dinge." Die Zuschauer würden wie eine Wand hinter ihm stehen. "Die Halle wird beben, so wie ich das auch noch nicht erlebt habe", sagte Ovtcharov im Vorfeld: "Ich habe viel Erfahrung, ich denke, ich werde damit umgehen können." So richtig gelang ihm das erst nicht. Lebrun peitschte Ovtcharov die spektakulären Aufschläge und die Rückhände um die Ohren. Lebrun spielte auf einem unfassbaren Niveau. Und mit jedem Zauberschlag bebte die Halle ein bisschen mehr. Der 17-Jährige pushte sich und diese Energiewellen ritten wie wild durch die Arena.

Es war nicht so, dass Ovtcharov nichts dagegenzuhalten hatte, er versuchte alles, spielte ebenfalls auf einem beeindruckenden Niveau, allerdings geriet er immer wieder unter Druck. Lebrun weicht kaum von der Platte zurück, geht auf jeden Ball aggressiv drauf. Das zermürbt den Gegner, wenn der Franzose dann alles trifft. In den ersten Durchgängen war das der Fall. Wie gut Ovtcharov dagegenhielt, zeigte sich in Durchgang zwei. Fünf Möglichkeiten von Lebrun zum Satzgewinn wehrte er ab, aber auch der Tischtennis-Teenager konterte zwei Chancen des Deutschen. Als Lebrun den dritten Satz gewonnen hatte, als Ovtcharov ratlos zur Bank geschlichen war, sang das Publikum die Marseillese. Was für eine gigantische Party. Die aber crashte der 35-Jährige plötzlich.

Ein Monsterballwechsel bringt die Entscheidung

Mehr zum Thema

Wie aus dem Nichts verlor Lebrun seine Leichtigkeit, seine Souveränität, seine Aggressivität. Man kann das Momentum des Kippens gar nicht greifen, nicht definieren. Beim Deutschen ging dagegen immer mehr. Er kam in die Offensive, hatte eine überragende Länge in seinen Bällen und spielte aggressive Konter. Der Franzose haderte, zweifelte. Eine überragende Vorhand von Ovtcharov knallte cross über die Platte und Lebrun um die Ohren. Das Wunder war möglich. Längst war hier ein zweiter kleiner Tokio-Moment. Ein unfassbares Tischtennis-Spiel, an einem Tag, an dem das Unmögliche möglich geworden war. Zuvor hatte der Schwede Truls Möregardh den Weltranglistenersten Wang Chuqin aus dem Turnier geworfen, mit zauberhaftem Tischtennis. Tokio-Olympiasieger Fan Zhendong ist damit der letzte Chinese im Turnier, er könnte im Halbfinale auf Lebrun treffen.

Dann der siebte Satz, das Momentum liegt klar bei Ovtcharov. Doch Lebrun ist plötzlich wieder da, kommt gut rein und führt 3:1. Es bleibt eng, beide Spieler gehen aggressiv auf die Bälle. Die Vorentscheidung fällt im achten Ballwechsel. Eine irre Rallye endet mit dem Punktgewinn für Lebrun. Über die Vorhand lässt er es krachen, Ovatcharov hält mit der Rückhand dagegen. Der Ball fliegt hin und her. Das Tempo ist absurd, volle Röhre, keine Taktiererei mehr. Beim 7:4, wieder geht der Punkt an den Franzosen, ist es kaum weniger spektakulär, die Halle tobt, Lebrun bebt und siegt. Ovtcharov dagegen verpasst sein Ziel einer nächsten Einzelmedaille. 2012 in London und 2021 in Tokio hatte er jeweils Bronze gewonnen, mit der Mannschaft holte er vier weitere Olympiamedaillen - je zweimal Silber und Bronze. Mit dem Team will er nun um eine Medaille spielen. Seine vielleicht letzte?

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen