Flucht, Rassismus - Medaille? Melat Kejeta - alles andere als ein Märchen
05.08.2021, 18:37 Uhr
Melat Kejeta läuft beim Marathon in Tokio womöglich um Medaillen mit.
(Foto: imago images/Jan Huebner)
Melat Kejeta ist eine der schnellsten Frauen über 42 Kilometer, die Deutschland je hatte. Weil sie nicht aufhört zu kämpfen, selbst wenn sie vor Unterdrückung flüchten muss. Über eine Frau, die sich durchbeißt, ihre "Mama" vermisst - und eine Marathon-Medaille gewinnen kann.
Viele Berichte über Melat Kejeta klingen ähnlich. Vom Märchen ist da die Rede. Das Märchen der Marathonläuferin, die fliehen musste - aber in Deutschland ihr Glück fand. Doch so einfach ist es nicht. So simpel ist es schlichtweg nie, wenn es um eine Flucht vor Gewalt, Unterdrückung und Repressionen geht. Märchen sind diese dramatischen Geschichten zu keiner Zeit. Zu viel persönliches Leid ist damit verbunden. Traumata, die lange nachwirken können.
So ist das auch bei Melat Kejeta. Denn die Läuferin lebt kein Märchen, sie kämpft wie viele Geflüchtete in Deutschland damit, tausende Kilometer entfernt von der Familie zu sein und das persönliche und berufliche Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken, mit der deutschen Bürokratie, mit dem Einleben in einer neuen Kultur - mit Alltagsrassismus im Supermarkt. Beim olympischen Marathon am Abend (23 Uhr) in der Nacht auf Samstag läuft die in Äthiopien geborene und aufgewachsene Kejeta das bisherige Rennen ihres Lebens.

2019 wird Kejeta bei ihrem Marathon-Debüt gleich mal sechste in Berlin.
(Foto: imago images/Camera 4)
Die 28-Jährige bestreitet erst ihren zweiten Lauf über die Distanz von 42,195 Kilometern und könnte dennoch eine der besten deutschen Marathonläuferinnen jemals werden. So urteilt jedenfalls die Lauf-Szene. Das liegt an Kejetas Marathon-Debüt in Berlin 2019, mit dem sie sich auf Anhieb für Tokio qualifiziert. Im ersten Marathon ihres Lebens läuft sie in 2:23:57 als Sechste über die Ziellinie. Es ist die drittschnellste Zeit einer deutschen Läuferin jemals nach Irina Mikitenko (2:19:19) und Pippig (2:21:45). Während Deutschland jubelt, zeigt sich Kejeta ein wenig enttäuscht und sagt, sie habe 2:22 anvisiert.
"Ich bin wie drogensüchtig"
Das ist typisch Melat Kejeta. Sie ist eine Kämpferin. Will immer besser werden, hat einen enormen Willen. "Laufen ist mein Leben", erklärt sie im Gespräch mit ntv.de ihren Erfolgshunger und ihre unbändige Energie. "Das war schon seit meiner Kindheit in mir drinnen. Wenn es ums Laufen geht, bin ich wie drogensüchtig." Dabei sind Kejetas Anfänge durchaus holprig. "Als Kind war ich nicht so schnell", lacht sie. "Aber ich habe weiter gekämpft, um dahin zu kommen, wo ich heute bin. Denn wenn ich etwas schlecht kann, sehe ich das als Stärke, um mich weiterzuentwickeln."
Ihre schnellen Zeiten aus den heutigen Tagen verwundern längst nicht mehr. Denn das Talent der jungen Läuferin entwickelt sich dank harten Trainings schnell. "Mein Trainer sagte damals zu mir: 'Du hast Marathon-Füße.'", erinnert sich Kejeta. Mit 18 rennt sie in Äthiopien erstmals ins Rampenlicht, läuft einen Halbmarathon in 1:10:43. Zum Vergleich: Die niederländische Weltklasseläuferin Sifan Hassan absolviert 2011 als 18-Jährige den Halbmarathon in 1:17:10 Minuten.
Doch dann ändert sich alles im Leben der Läuferin. Es wird zu einer ganz anderen Art von Marathon, für den sie noch viel mehr Ausdauer, Beharrlichkeit und Willen braucht. Über diese Episode redet Kejeta nicht gerne. Nicht nur, weil die Erinnerungen schmerzen. Auch, weil ihre Familie in Äthiopien sonst in Gefahr schweben könnte. "Die politische Situation ist einfach nicht sicher", erzählt die 28-Jährige. Der Vater der Läuferin kommt damals unter nicht näher bekannten Umständen vor Gericht, sie soll gegen ihn aussagen. Vater und Tochter gehören den Oromo an, der größten Bevölkerungsgruppe des ostafrikanischen Landes, die seit Jahren von Regierung unterdrückt und politisch verfolgt wird.
Eine Flucht, kein Märchen
An ein Märchen erinnert solch eine Situation sicherlich nicht. Kejeta sieht sich gezwungen, für immer aus Äthiopien zu fliehen. Bei einem Wettkampf in Italien 2013 setzt sich die Läuferin schließlich ab. "Das war sehr kompliziert", sagt sie. "Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, wie lange das Ganze gedauert hat, weil ich so gestresst war." Mit dem Zug flüchtet sie nach Belgien, die Angst fährt mit. Von dort wird sie nach Deutschland geschickt. Geplant ist das alles nicht. "Das Ziel war: einfach nur weg!"
Die Läuferin kommt in ein Heim für Geflüchtete in Gießen. Wer solch eine Behausung schon einmal besucht hat, - geschweige denn mehrere Monate oder Jahre darin leben musste - der weiß, dass die Zustände den Menschen dort zusetzen. Dass ein normales, produktives Leben in einer solchen Unterkunft kaum möglich ist. "Ich habe in einem Raum mit sieben anderen Menschen gewohnt, da war es nicht einfach zur Ruhe zu kommen", erinnert sich Kejeta.
"Da gab es einen kleinen Wald", erzählt sie weiter. "Ich habe versucht, weiter zu trainieren." Aber die Heimleitung will nicht, dass sie die Unterkunft häufig verlässt. "Ich musste mich immer erklären, musste sagen, warum ich rausgehe." Kejeta fühlt sich eingesperrt, aber gibt wieder nicht auf. "Das Laufen hat mir auch Hoffnung gegeben, immer weiterzumachen." Dann schließt sie sich dem Laufteam Kassel an, das vermehrt Geflüchtete integriert, und kann ihre Karriere in Deutschland starten.
Aber nicht nur auf der Laufstrecke muss Kejeta kämpfen. Jahre bangt sie, endlich ihren deutschen Pass zu bekommen, muss mit einem Anwalt darum ringen. "Ich bin jeden Morgen zum Briefkasten gerannt, aber er war immer leer." Die tägliche Angst, irgendwann nach Äthiopien, zurück zu Unterdrückung und Gefahr, geschickt zu werden - auch das passt in kein Märchen.
Kartoffeln mit Spinat
"Außerdem war es anfangs sehr schwer, sich an die Kultur und die Menschen in Deutschland zu gewöhnen", sagt Kejeta, "und auch die Sprache war nicht einfach." Die teilweise dargebotene Gefühlskälte der Deutschen setzt ihr zu, in Äthiopien sei man einfach offener und nachbarschaftlicher umgegangen, erzählt die 28-Jährige. Auch Rassismuserfahrungen muss sie erleben und bemerkt ebenfalls, wie sie beim Einkaufen komisch angeschaut und anders gegrüßt wird als weiße Kunden. "Wir sind alle gleich, aber warum sind wir so zueinander?", fragt sie. "Das macht mich immer traurig."
Eine Flucht ist nicht einfach zu Ende, wenn man irgendwann irgendwo ankommt. Immer noch muss man getrennt von der eigenen Familie, von Freunden und der Heimatkultur leben. "Am meisten vermisse ich meine Mama", sagt Kejeta. Es bleibt nur der Handykontakt. Aber auch Kitfo vermisst sie, ein traditionelles Fleischgericht aus Äthiopien. "Das gibt es in Deutschland auch in Restaurants, aber es schmeckt nie wie zu Hause bei meiner Mama." Jetzt hat die Läuferin aber auch in Deutschland ihr Lieblingsessen entdeckt: Kartoffeln mit Spinat.
Trotz Flucht und Strapazen kann Kejeta läuferisch weiter überzeugen, bis die deutsche Bürokratie ihr einen Strich durch die Rechnung macht. 2016 wird sie deutsche Meisterin über zehn Kilometer. Danach aber stellt der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) die Regel auf, dass die Athletinnen und Athleten, die um deutsche Meisterschaften kämpfen, die deutsche Staatsangehörigkeit benötigen - und sie besitzt zu diesem Zeitpunkt noch keinen Pass.
Aber wieder gibt Kejeta nicht auf - und läuft Straßenrennen. Mit Erfolg, ihr riesiges Potenzial zeichnet sich dabei immer wieder ab. 2018 gewinnt sie den Berliner Halbmarathon, es folgt das schnellste Marathon-Debüt einer deutschen Läuferin beim Berlin-Marathon 2019. International sorgt Kejeta dann 2020 bei der Weltmeisterschaft in Polen für Furore. Mit 65:18 Minuten läuft sie die elftschnellste Zeit der Geschichte und schnappt sich den Europarekord.
"Dann rufe ich meine Mama an"
Ob Marathon oder Halbmarathon, "ich kann beides", sagt Kejeta. "Ohne Training ist das natürlich schwer, aber ich trainiere hart." Eine Medaille in Tokio wäre eine Überraschung für die unerbittliche Kämpferin, aber sie scheint möglich. Akribisch bereitet sich die 28-Jährige im Höhentrainingslager in Kenia vor, bis zu 170 Kilometer spult sie dort pro Woche ab. Ihr ehemaliger Trainer Patrick Sang sagt einmal, dass er ihr sogar eine Zeit von 2:20 Stunden (Weltrekord: 02:14:04) zutraut. "Das ist möglich", erklärt auch Kejeta aufgrund ihrer Trainingserfahrungen. Ein wenig Bedenken hat die Läuferin aber aufgrund des Wetters: "Ich bin nicht so gut in der Hitze. In Japan ist es so warm, ich weiß nicht, ob wir da eine sehr schnelle Zeit laufen können."
"Ich freue mich erstmal, dass mein Traum wahr geworden ist und ich bei den Olympischen Spielen laufe. Ein Platz in den Top Ten wäre ein Erfolg für mich", sagt Kejeta zum Abschluss. "Aber am liebsten würde ich natürlich eine Medaille mit nach Deutschland bringen." Bundestrainerin Katrin Dörre-Heinig räumt ihr in einem Video des ZDF gute Chancen ein: "Ich glaube, die Möglichkeit ist groß, dass sie auf eine Medaille laufen kann. Und es wird auch wieder Zeit, dass eine Deutsche mal wieder eine Medaille holt."
Natürlich hat Melat Kejeta, die immer kämpft und nichts dem Zufall überlässt, auch schon einen Plan für den Fall, dass sie sich wieder gegen alle Widerstände durchsetzen und wirklich eine Medaille abräumen sollte. "Zuerst bedanke ich mich bei Gott", sagt die Läuferin. "Und dann rufe ich meine Mama an."
Quelle: ntv.de