Vom Jahrhundertspringer... ... zum einfachen Stripper
12.08.2003, 14:02 UhrManchmal steigt Matti Nykänen aus dem tiefen Tal der Verzweiflung heraus. "Ich möchte meinen Lebensstil ändern und 100 Jahre alt werden. Ab jetzt gibts Vitamine statt Alkohol", verkündete der Finne an seinem 40. Geburtstag im Juli.
Es fällt schwer, dem größten Skispringer aller Zeiten zu glauben. Der Absprung ins wirkliche Leben ist ihm auch acht Jahre nach seinem kläglich gescheiterten letzten Comebackversuch nicht geglückt. Im Oktober will er sein neuestes Projekt vorstellen, eine Autobiografie über seine Höhenflüge und Abstürze.
"Ich habe viele Dinge in mir getragen, die ich erst jetzt durch die Psycho- und Alkoholtherapie rauslassen kann", erzählt Nykänen. Wieder einmal hat er einen neuen Anfang gemacht, nachdem er zu Beginn diesen Jahres wieder einmal am Ende war.
Selbstmordgedanken
Im Februar wanderte er in den Knast, nachdem er seine vierte Ehefrau Mervi mit dem Messer bedroht hatte. Nykänen dachte damals an Selbstmord. "Ich war am Ende, ich war bereit, mich zu erschießen. Ich wusste schon, woher ich die Waffe bekomme, um dieser Hölle ein Ende zu bereiten", erzählt der Mann mit dem Spitznamen "Babyface".
Inzwischen hat Matti Nykänen wieder neuen Lebensmut gefasst und kämpft gegen den Teufel in seinem Kopf. Er lebt wieder mit Mervi zusammen, die die Anzeige wegen des Messerattentats zurückgezogen hat. Nykänen hat sogar neue Verlobungsringe gekauft und will seine Frau wieder heiraten. Er will die vielleicht letzte Chance nutzen, sein Leben nicht endgültig zu verpfuschen: "Ich werde auch noch viele Male zur Therapie zurückkehren."
Vom Jahrhunderspringer ...
Vor über 20 Jahren brauchte das blonde, picklige Milchgesicht keine Hilfe, er stellte das Skispringen ganz aus eigener Kraft auf den Kopf. In den sieben Jahren zwischen 1982 und 1989 sammelte der Jahrhundertspringer Titel wie andere Briefmarken. Sein enormes Talent bescherte dem zweimaligen Skiflug-Weltrekordler vier Olympiasiege, sechs WM-Titel, 46 Weltcup-Siege, zwei Vierschanzentournee-Erfolge und einmal Gold bei der Skiflug-WM. Rekorde für die Ewigkeit, obwohl Nykänen nie für besonderen Trainingsfleiß berühmt war.
Der Mann mit der ewigen Kinderseele verdiente Millionen, konnte aber weder mit dem Geld noch mit dem Ruhm umgehen. Schon mitten in seiner größten Zeit hatte der fliegende Finne 1986 sein erstes Gerichtsverfahren am Hals, weil er Zigaretten und Bier aus einem Kiosk gestohlen hatte. Er trank weiter exzessiv, verzockte Unmengen und düste mit seiner damaligen Frau Tina Hassinen mitten in der Saison zu Flitterwochen nach Sri Lanka.
... zum Stripper
Der große Absturz kam, als andere plötzlich weiter sprangen als er. Der unberechenbare Nykänen flog 1990 lieber nach Gran Canaria als zur Vierschanzentournee und wollte in der kommenden Saison sogar für Deutschland starten. Derlei Eskapaden trieben den Vater von Sami und Eveliina in den finanziellen Ruin. Seine gigantischen Schulden versuchte er als Stripper in zweitklassigen Nachtlokalen oder als Kellner abzubauen, er moderierte Miss-Wahlen und übernahm Nebenrollen in Erotikvideos.
Auch vor religiösen Botschaften in Boulevardzeitungen, einem Ausflug in die Popmusik ("Mein Stil ist das V") und der Lancierung eines Matti-Nykänen-Ciders scheute sich der Finne nicht. Den bürgerlichen Job eines Platzwarts lehnte er dafür ab, versagte 1994 bei seinem letzten Comebackversuch und war auch als Trainer nicht zu gebrauchen.
An einem der vielen Tiefpunkte seines Lebens nahm er den Namen seiner dritten Ehefrau Sari Paanala an und verscherbelte seine imposante Medaillensammlung für damals 100.000 Mark an das Sportmuseum in Helsinki. Am Rande der nordischen Skiweltmeisterschaft 2001 in Lahti verkaufte der von seinem ausschweifenden Lebensstil gezeichnete Nykänen für umgerechnet 80 Cent seine Unterschrift mit Widmung nebst Handschlag. Er fand viele Kunden, aber sicherlich schwang bei den Käufern auch Bedauern beim Anblick ihres früheren Idols mit.
Trotz allem lieben die Finnen ihren gestürzten Engel noch immer. Bei einer Umfrage nach dem größten finnischen Sportler des 20. Jahrhunderts belegte Nykänen mit 19,2 Prozent der Stimmen Rang zwei hinter Paavo Nurmi (35,5) und schlug den ehemaligen Formel-1-Weltmeister Mika Häkkinen klar.
Auf seiner Internetseite prahlt er mit dem Titel "Der beste Skispringer der Welt ". Matti Nykänen fliegt noch immer - zumindest in seinen Gedanken.
von Lars Becker und Michael Szurawitzki
Quelle: ntv.de