Osteuropäische Firmen alarmiert Fernfahrer-Reform stellt Spediteure vor Probleme
10.07.2020, 11:15 Uhr
Wenn es Nacht wird auf Deutschlands Raststätten, füllen sich die Parkplätze.
(Foto: imago images / Michael Eichhammer)
3,6 Millionen Fernfahrer versorgen Europa mit Waren. Die Arbeits- und Lebensbedingungen, vor allem für die vielen Fahrer aus Osteuropa, sind der EU-Kommission schon lange ein Dorn im Auge. Eine Reform soll das nun ändern - und stellt eine ganze Branche nach eigener Aussage vor existenzielle Fragen.
Ein EU-Gesetzespaket, das die Bedingungen für Fernfahrer verbessern soll, wird auch nach seiner Verabschiedung noch heftig diskutiert. Verkehrsexperten wie der SPD-Europaabgeordnete Ismael Ertug feiern den Beschluss als Ende des "Nomadentums" im Fernfahrer-Sektor. Die Logistikbranche dagegen steht vor praktischen Problemen.
Darum geht es: Das EU-Parlament hat eine Reform beschlossen, nach der die Fahrer ihre vorgeschriebene Wochenruhezeit von 45 Stunden - zumeist am Wochenende - nicht mehr in ihren Fahrzeugen verbringen müssen beziehungsweise dürfen. Unter der Woche, am Ende einer Tagestour oder auf dem Weg zum Ziel, bleibt es erlaubt, in der Fahrerkabine zu übernachten.
Um Lohndumping zu verhindern, unterliegen die Fahrer zudem bei längeren Auslandsaufenthalten bis auf wenige Ausnahmen den sozialrechtlichen Bestimmungen des Aufenthaltslandes. Zur Kontrolle werden elektronische Fahrtenschreiber Pflicht. Zusätzliche Bestimmungen gibt es gegen Briefkastenfirmen, damit Speditionsunternehmen sich ihren Firmensitz - und damit das Lohnniveau - nicht einfach aussuchen.
Überfüllte Raststätten und mitunter schwer erträgliche Lebensbedingungen für Fahrer sollen damit der Vergangenheit angehören, so das Kalkül. 3,6 Millionen LKW-Fahrer sind auf Europas Fernstraßen unterwegs. Besonders Fahrer aus Osteuropa werden oft so schlecht bezahlt, dass sie sich feste Unterkünfte nicht leisten können. Im Preiskampf können etwa bulgarische, polnische und rumänische Speditionen nach eigener Aussage nur so überleben.
"Wo sind die Hotels? Wer bewacht die Fracht?"
Kritisch bewertet daher exemplarisch der rumänische Verband der Spediteure die neuen Regeln. Diese würden ihre Industrie "begraben". Kombiniert mit den Folgen der Corona-Krise sei damit zu rechnen, dass ein Drittel der Unternehmen der Branche pleitegehen werde. "Der Kampf ist noch nicht vorbei", kündigte der polnische EU-Abgeordnete Kosma Zlotowski an. Bestimmte Mitgliedstaaten würden "mit Sicherheit" vor dem Europäischen Gerichtshof gegen dieses "eindeutige Beispiel von wirtschaftlichem Protektionismus" klagen.
Grundsätzliche Zustimmung, aber auch Skepsis kommt von der heimischen Logistikbranche. "Natürlich unterstützen wir das", sagte Benjamin von Cetinich vom Verband Spedition und Logistik NRW dem WDR. Es sei nicht gut, wenn Fahrer unter ihren Lkws schliefen und sich von Ravioli ernährten. Doch die Reform sei nicht durchdacht. "Wo sind die Hotels? Wer bewacht die Fracht? Und wenn sie ein Hotel ansteuern, finden es die Anwohner ganz bestimmt auch nicht toll, wenn 40-Tonner durch ihr Wohngebiet donnern."
Zudem ist unklar, wer die zusätzlichen Kosten tragen soll. Ein Spediteur rechnete im WDR vor: Selbst wenn die Fahrer in einem günstigen Hotel für etwa 40 Euro unterkommen, seien das 320 Euro pro Monat und Fahrer. Kosten, die am Ende die Auftraggeber übernehmen müssten. Und wenn das, sowie eine passende Infrastruktur nicht gewährleistet sei, würden doch wieder viele Fahrer, dann eben illegal, in ihren Lastern schlafen. Und daraus resultierten dann wiederum Bußgelder, die die Spediteure übernehmen müssten.
Osteuropäer wurden überstimmt
Schon vor der Verabschiedung des Gesetzespakets gab es Streit. Die EU-Kommission hatte die Reformpläne 2017 vorgestellt. Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten waren dafür, die osteuropäischen Staaten, vor allem Polen und Bulgarien dagegen. Schließlich wurden die Osteuropäer überstimmt. Im Rat der Mitgliedstaaten wurde die westliche Position Ende 2018 gegen Widerstand aus neun Ländern per Mehrheitsentscheid durchgedrückt. Im EU-Parlament konnte auch eine Flut von Hunderten Änderungsanträgen ein positives Votum kurz vor der EU-Wahl im vergangenen Frühjahr nicht verhindern. Die Unterhändler der beiden Institutionen einigten sich anschließend dementsprechend.
Noch im April scheiterte eine Gruppe mehrheitlich östlicher Länder mit dem Versuch, das Reformvorhaben unter Verweis auf die Folgen der Corona-Krise auf den Transportsektor doch noch zu kippen. Im neu gewählten EU-Parlament, wo die Einigung noch einmal bestätigt werden musste, gab es nun erneut Dutzende Änderungsanträge, die jedoch keine Mehrheit fanden.
Erleichtert zeigt sich darüber die Arbeitnehmerseite. Die neuen EU-Vorgaben "werden verhindern, dass Unternehmen die Fahrer (...) ihres Familien- und Soziallebens berauben und sie um eine angemessene Bezahlung und Sozialversicherung betrügen", erklärte der Europäische Gewerkschaftsbund ETUC. "Missstände wie übermüdete Fahrer auf den Straßen, manipulierbare Kontrollgeräte und Briefkastenfirmen im Osten können nun effektiv bekämpft werden", erklärte der EU-Abgeordnete Markus Ferber von der CSU.
Die neuen Bestimmungen zu den gesetzlichen Pausenzeiten und Vorgaben für den Dienstplan treten in wenigen Wochen in Kraft. Für die Umsetzung neuer Regeln zur Kabotage, also wenn ein ausländisches Unternehmen eine Lieferleistung komplett innerhalb eines anderen Landes erbringt, und den sozialrechtlichen Bestimmungen gilt eine Übergangsfrist von 18 Monaten.
Quelle: ntv.de, jog/AFP