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Unertan-Syndrom neu beleuchtet Vierfußgang kein evolutionärer Rückschritt

Das Unertan Syndrom führt zu einem Verlust des Gleichgewichts und einer Einschränkung der Koordination.

Das Unertan Syndrom führt zu einem Verlust des Gleichgewichts und einer Einschränkung der Koordination.

(Foto: REUTERS)

An der türkisch-syrischen Grenze stoßen Wissenschaftler auf Menschen, die sich auf allen vieren fortbewegen. Die Forscher glauben, einen Beweis für eine umgekehrte Evolution vor sich zu haben. Haben sie vorschnell geurteilt?

In einer abgelegenen Region der Türkei entdeckte Üner Tan von der Çukurova Universität in Adana vor einigen Jahren eine Familie mit einem äußerst seltenen Gendefekt. Die betroffenen Familienmitglieder bewegten sich mit ausgestreckten Knien auf allen vieren fort. Das Erlernen des aufrechten Gehens war ihnen unmöglich. Kurz nach ihrer Entdeckung wurden die "Vierfüßler" durch eine Dokumentation der BBC weltberühmt.

Seitdem spekulieren Wissenschaftler rund um den Globus über die Hintergründe des äußerst seltenen Unertan-Syndroms (UTS). Eine verbreitete Theorie ist, dass der vierfüßige Gang der Betroffenen auf einen evolutionären Rückschritt hinweise. Üner Tan, Namensgeber des Syndroms, und seine Kollegen bezeichnen den genetischen Defekt als "Devolution". Die quadropedischen Bewegungsabläufe der UTS-Betroffenen zeigten in umgekehrter Richtung, so der türkische Neurowissenschaftler, wie sich der Übergang vom vierfüßigen zum aufrechten Gang vollzogen hat.

Anpassung statt Rückschritt

Der Kreuzgang eines Pavians und der Passgang einer Katze im Vergleich.

Der Kreuzgang eines Pavians und der Passgang einer Katze im Vergleich.

(Foto: Plos One)

Eine Fehleinschätzung, wie das Team um Liza Shapiro in einem Beitrag für das Wissenschaftsjournal Plos One erläutert. Die Anthropologin der University of Texas in Austin ist überzeugt, dass es sich bei dem vierfüßigen Gang der UTS-Betroffenen lediglich um eine Anpassungsleistung handelt. Ihre Studie ist die erste, in der die Behauptung, dass die typischen UTS-Bewegungen denen von Affen ähneln, widerlegt wird.

Die Wissenschaftler analysierten mit Hilfe von Videomaterial 518 Bewegungsabläufe von Menschen mit UTS, darunter auch Bilder der türkischen Familie aus der BBC-Dokumentation. Anschließend verglichen sie die Bewegungen mit denen gesunder Menschen. Diese sollten sich im Labor ebenfalls auf allen vieren bewegen.

"Ungewöhnlich", aber "keineswegs überraschend"

Alle Untersuchungssubjekte, sowohl die UTS-Erkrankten als auch die Gesunden, bewegten sich in einer Art Passgang, einer abwechselnden Bewegung der jeweils rechten oder linken Gliedmaßen. Nicht aufrecht gehende Primaten hingegen bewegen sich im Kreuzgang. Die diagonal liegenden Beine werden hier gleichzeitig vom Boden abgehoben und wieder aufgesetzt.

"Obwohl es ungewöhnlich ist, dass sich Menschen mit UTS gewohnheitsmäßig auf allen vier Gliedmaßen fortbewegen, gleicht die Art der Fortbewegung denen gesunder Menschen und ist damit keineswegs überraschend", schreibt Shapiro in einem Artikel der University of Texas. Der vierfüßige Gang könne mit biomechanischen Prinzipien treffender erklärt werden als mit evolutionären Vermutungen, so die Anthropologin weiter.

Die Ergebnisse der Studie bestätigen Shapiro zufolge die Annahme einiger Wissenschaftler, dass die UTS-Betroffenen mit ihrem vierfüßigen Gang andere Defizite ausgleichen. Die typischen bei UTS auftretenden genetischen Mutationen bewirken eine Störung des Kleinhirns, was wiederum die Motorik der Betroffenen in vielen Bereichen einschränkt. Die Ergebnisse von Shapiros Studie lassen vermuten, dass sich die Betroffenen mit Hilfe des Vierfüßergangs an diese Einschränkungen anpassen.

Quelle: ntv.de

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