Politik

Hauptbelastungszeuge im NSU-Verfahren Die Erinnerungslücken des Carsten S.

Carsten S. am 6. Juni im Münchner Gerichtssaal.

Carsten S. am 6. Juni im Münchner Gerichtssaal.

(Foto: dpa)

Carsten S. ist einer der wichtigsten Zeugen im NSU-Verfahren, an acht Prozesstagen wurde er bisher 26 Stunden lang vernommen. Seinen Mitangeklagten Ralf Wohlleben belastet er schwer. Bei aller Aussagebereitschaft gibt es noch immer Bereiche, in denen S. sich selbst ein Rätsel bleibt.

Die Bilder, die die Öffentlichkeit von Carsten S. zu sehen bekommt, ähneln sich an jedem Prozesstag. Er sitzt im Gerichtssaal, die blaue Kapuze tief ins Gesicht gezogen, um sich vor den Fotografen zu schützen. Er hat den Kopf gesenkt, den Oberkörper gebeugt. Das könnte Demut sein oder Reue, vielleicht auch Scham oder einfach der Wunsch, sich zu verbergen.

Der 33-Jährige ist der einzige Angeklagte im NSU-Prozess, der Aussagen macht und Fragen beantwortet. Ausführlich berichtete S. im Gerichtssaal an acht Tagen, wie der Mitangeklagte Ralf Wohlleben ihn zum Verbindungsmann zu den Untergetauchten machte. Wie er Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe eine Waffe besorgte - wahrscheinlich jene "Ceska" mit Schalldämpfer, mit der Mundlos und Böhnhardt neun Menschen ermordeten und deren Geschosse zur Signatur der NSU-Terroristen wurden. Ohne Carsten S. wäre möglicherweise nie geklärt worden, woher die Terroristen des NSU ihre wichtigste Waffe bekamen.

Bei der Waffenübergabe hätten sich die beiden Uwes ihm gegenüber damit gebrüstet, in einem Laden eine Taschenlampe abgestellt zu haben, erzählte S. und brachte damit die Ermittler möglicherweise auf die Spur eines weiteren NSU-Verbrechens: 1999 wurde in Nürnberg ein Anschlag mit einer Rohrbombe unternommen, die wie eine Taschenlampe aussah. Ein 18-Jähriger wurde verletzt, das Lokal betrieb ein türkischstämmiger Mann. Inzwischen ermittelt das BKA wegen versuchten Mordes. Bei allen vorherigen Überprüfungen ungeklärter Straftaten war der Anschlag durch das Raster gefallen.

Noch eine NSU-Tat?

Möglicherweise gibt es auch eine weitere unentdeckte Tat des NSU. Der Angeklagte Ralf Wohlleben habe ihm erzählt, dass die drei Untergetauchten jemanden angeschossen hätten, sagte S. im Prozess. Dies sei geschehen, nachdem er dem Trio eine Waffe übergeben hatte. "Wir haben das Bundeskriminalamt beauftragt herauszufinden, ob in diesem Zeitraum eine Tat begangen worden sein könnte, wo jemand angeschossen wurde und die NSU-Bezug haben könnte", erklärte Bundesanwalt Herbert Diemer daraufhin.

Ob Carsten S. Zschäpe mit seinen Aussagen belastet hat, darüber herrscht keine Einigkeit. Zschäpes Anwälte verneinen das vehement und werfen S. Widersprüchlichkeit und Unwahrheiten vor. Berichtet hat er lediglich von einem Treffen, bei dem auch Zschäpe mit anwesend war. Dass Zschäpe aber ausgerechnet an einem der Tage, an denen S. aussagte, gesundheitliche Probleme bekam, werten viele als Indiz dafür, dass seine Aussagen durchaus relevant für die Hauptangeklagte sind.

Am vorletzten Tag seiner Vernehmung entschuldigte sich S. dann auch noch bei den Angehörigen der Opfer. Er könne nicht ermessen, welch "unglaubliches Leid" er den Angehörigen angetan habe, sagte der 33-Jährige. Ihm fehlten die Worte, "eine Entschuldigung wäre zu wenig", würde wie ein "sorry" klingen und dann sei es vorbei. "Aber es ist noch lange nicht vorbei", sagte S. "Ich wollte Ihnen mein tiefes Mitgefühl ausdrücken."

S. hat sich aus der rechten Szene gelöst. Vor allem, weil er gemerkt hat, dass er unter Neonazis nicht offen als Schwuler leben kann. Er hat sein Fachabitur gemacht und Sozialpädagogik studiert. Zuletzt arbeitete er bei der Aids-Hilfe in Düsseldorf.

Verdrängte Sexualität und politische Blödheit

Doch die Konfrontation mit seiner Neonazi-Vergangenheit hat für ihn etwas zutiefst Verstörendes. Das mag der Grund sein, warum sich gelegentlich große Differenzen in S.' Erinnerungsvermögen auftun. Im Detail kann S. erzählen, was er seiner Zeit als Neonazi anhatte, Rangerboots mit Stahlkappe, schwarze Hose, ein "hübsches Hemd". Eine Barettkappe. Einen schwarz-weiß-roten Aufnäher auf der Jacke. Bei der Übergabe der Waffe: einen Pulli mit der Aufschrift "ACAB" - das Jargon-Kürzel für "all cops are bastards". Darunter ein "Troublemaker"-T-Shirt. Passend zur weißen Hose und den Turnschuhen von Adidas.

An anderen Stellen wird seine Erinnerung hingegen seltsam unscharf. Vor allem dann, wenn er erklären soll, wie er zum Neonazi wurde. Er sei "Nationaler Sozialist" gewesen, hatte er in einer Vernehmung gesagt. Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten will wissen, was er damit meinte. "National - für unser Land, und sozial", Carsten S. kommt ins Stocken, "für uns. Für die Gemeinschaft." Weingarten fragt, ob er Ausländer als gleichwertige Menschen betrachtet habe. Das sei nicht einfach zu beantworten, sagt Carsten S: "Das hat viel auch zu tun mit der Musik - Afrika für Affen, Europa für die Weißen, all sowas haben wir gesungen."

Man könnte vermuten, dass es S. weniger um Politik als um Erotik ging. Das wurde beipielsweise deutlich, als er seine erste Begegnung mit Böhnhardt beim Dartspielen beschrieb. "Er hatte so eine braune Uniform angehabt und hohe Stiefel." Ein andermal habe er auf einer Party Skinheads getroffen. Sie hätten sich gegenseitig die Glatzen rasiert. "Das war super. Das hat mir Spaß gemacht. Ich denke, da war auch eine sexuelle Komponente dabei."

Sicher ging es bei den Aussagen von Carsten S. vor allem um Gerichtsverwertbares. Die Bundesstaatsanwaltschaft braucht für ihre Anklagepunkte Beweise, und die soll nicht zuletzt S. liefern. Die Erzählungen von S. lassen aber auch ahnen, wie schwierig es ist, das damalige Leben voll von Alkohol, Musik, Spaß und Randale mit dem Schuldgefühl von heute zusammen zu bringen.

Quelle: ntv.de

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