Gift oder Medizin? Grass rechnet mit Euro-Politik ab
26.05.2012, 18:55 Uhr
Die "Süddeutsche" und Radio Bremen durften als Erste das neue Gedicht veröffentlichen.
(Foto: dpa)
Günter Grass lässt sich nicht mundtot machen. In seinem neuen Gedicht prangert er Europas Umgang mit dem hochverschuldeten Griechenland an. Doch zu Aufruhr nach der Veröffentlichung kommt es nicht. Politiker hüllen sich in Schweigen. Auch der Autor will nichts zu seinem Werk sagen, dabei geht er heftig mit Europa ins Gericht.
Literaturnobelpreisträger Günter Grass will sein neues Gedicht zu Europas Griechenland-Politik nicht weiter kommentieren. "Er möchte es nicht ergänzen", sagte seine Sprecherin Hilke Osohling. Alles, was er zu sagen habe, stehe in dem Gedicht. Ein Echo aus der politischen und kulturellen Welt in Deutschland und Griechenland auf das 24-zeilige Gedicht blieb bislang aus. Grass hatte sein Gedicht in Auszügen am Freitag vor dem langen Pfingstwochenende veröffentlicht. Die "Süddeutschen Zeitung" brachte das Werk in Gänze am Samstag.
Dem Chaos nah, weil dem Markt nicht gerecht, bist fern Du dem Land, das die Wiege Dir lieh.
Was mit der Seele gesucht, gefunden Dir galt, wird abgetan nun, unter Schrottwert taxiert.
Als Schuldner nackt an den Pranger gestellt, leidet ein Land, dem Dank zuschulden Dir Redensart war. (...)
Rechtloses Land, dem der Rechthaber Macht den Gürtel enger und enger schnallt. (...)
Außer Landes jedoch hat dem Krösus verwandtes Gefolge alles, was gülden glänzt gehortet in Deinen Tresoren.
Sauf endlich, sauf! schreien der Kommissare Claqueure, doch zornig gibt Sokrates Dir den Becher randvoll zurück. (...)
Geistlos verkümmern wirst Du ohne das Land, dessen Geist Dich, Europa, erdachte.
Unter dem Titel "Europas Schande" beklagt Grass unter anderem, Griechenland werde "als Schuldner nackt an den Pranger gestellt" und "unter Schrottwert taxiert". Mit seinem Gedicht ist Grass auch im Originalton zu hören - er hat es exklusiv für Radio Bremen vorgelesen. Auch die griechische Zeitung "Kathimerini" druckte die Verse - kommentarlos.
Vor knapp zwei Monaten war Grass wegen seines israelkritischen Gedichts "Was gesagt werden muss" scharf angegriffen worden. Ihm wurde Antisemitismus vorgeworfen, Israel erklärte den Autor zur unerwünschten Person. Grass sah eine Kampagne gegen sich.
Grass ist nicht mundtot
Schon bei seinem Israel-Gedicht hatte Grass angekündigt: "Ich schweige nicht mehr." Knapp zwei Monate später legte er nun nach. Mit Lyrik sucht der politische Literat eine kleine Form, um sich auszudrücken. Dabei sieht er sich in guter Tradition des politischen Gedichts in der deutschen Literatur. Deutlich wird auch: Grass lässt sich nicht mundtot machen. Der Versuch, ihn wegen seines Israel-Gedichts "Was gesagt werden muss" aus dem deutschen PEN-Zentrum auszuschließen, hat ihn nicht verstummen lassen.
In seiner Abrechnung mit Europas Griechenlandpolitik würdigt der Dichter die kulturhistorische Bedeutung des Landes mit seinen antiken Schätzen. Dabei stellt diese niemand in Abrede. Kein Wort verliert Grass jedoch über das neuzeitliche Wirtschaftsdrama, das im Grunde damit begann, dass sich Griechenland den Zutritt zum Euro-Club mit frisierten Zahlen erschlichen hat. Kein Wort über das Schummeln danach, wodurch zunächst nicht auffiel, wie sehr der Schuldenberg wuchs. Kein Wort zum desolaten Verwaltungsapparat, zu Vettern- und Misswirtschaft der führenden Parteien - kein Wort zu den hausgemachten Problemen, die den Mittelmeerstaat in die Pleite führten.
Stattdessen hebt der 84-Jährige auf die Folgen der Hilfsauflagen ab. Er vergleicht die bittere Medizin des Spardiktats, das zu Gehaltseinbußen und Stellenabbau führte und die normalen Bürger in Arbeitslosigkeit und wachsende Armut stürzte, gar mit einem Giftbecher: "Sauf endlich, sauf! schreien der Kommissare Claqueure, doch zornig gibt Sokrates Dir den Becher randvoll zurück", schreibt Grass unter Anspielung auf den Philosophen, der nach dem Todesurteil den Schierlingsbecher getrunken hatte.
Quelle: ntv.de, dpa