Politik

Die Sicht eines Bildungsforschers "Kampf um Verteilung"

(Foto: picture alliance / dpa)

Kurz vor dem Volksentscheid um die Einführung einer sechsjährigen Primarschule in Hamburg kochen die Emotionen hoch. Während die Medien von einem "Glaubenskrieg" sprechen, warnen die Schulreformgegner vor der Schwächung der Gymnasien.  Klaus Klemm bescheinigt dem schwarz-grünen Modell dagegen durchaus Aussicht auf Erfolge. "Längeres gemeinsames Lernen ist ein Instrument, Ungleichheiten im Bildungssystem abzubauen", lobt der Bildungsforscher. Die Einwände der Reformgegner hält er für unhaltbar. Vielmehr gehe es schlicht um "Verteilungskämpfe".

n-tv.de: Herr Klemm, im Zusammenhang mit dem Volksentscheid in Hamburg um die Einführung einer sechsjährigen Primarschule ist oft von "Bildungsgerechtigkeit" die Rede. Was bedeutet dieser Begriff?

Klaus Klemm: Bildungsgerechtigkeit meint, dass die Frage, welchen Bildungsweg ein Kind geht, ausschließlich von seiner individuell erbrachten Leistung abhängt und nicht von anderen Voraussetzungen wie Ethnie, soziale Herkunft oder Geschlecht. Gerechtigkeit ist nicht gegeben, wenn ein Kind bei gleicher Leistung etwa wegen eines Migrationshintergrundes schlechter behandelt wird.

Wie steht es in Deutschland um die Bildungsgerechtigkeit?

Deutschland bekommt seit der ersten PISA-Studie vor zehn Jahren mit Regelmäßigkeit attestiert, dass die Bildungschancen von der sozialen Herkunft und einem Migrationshintergrund sehr stark beeinflusst werden. Schüler mit gleichen Leistungen haben mehr Bildungschancen wenn sie aus einem Akademikerhaushalt kommen oder Eltern ohne Migrationshintergrund haben.

Wo liegen die Gründe dafür?

Wir unterscheiden zwischen Gründen, die mit der Schule überhaupt nichts zu tun haben und denen, die mit der Schule zu tun haben. Kein Schulsystem kann dafür verantwortlich gemacht werden, dass Kinder aus bildungsnahen Familien bei ihrer Einschulung schon lesen oder rechnen können

Das deutsche Schulsystem zeichnet sich aber dadurch aus, dass es Kinder schon nach vier Jahren auf unterschiedlich anspruchsvolle Bildungswege schickt. Dieser Wechsel von einer Schulform in die weiterführenden Schulen ist ein Übergang, in dem noch einmal die ohnedies vorhandenen Unterschiede verstärkt werden.

Gemeinsam zum Erfolg?

Gemeinsam zum Erfolg?

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Dies geschieht durch Schulen, die Kinder in höhere Bildungswege empfehlen, wenn sie aus sozial starken Familien kommen. Dazu kommt, dass Elternhäuser mit einem höheren Bildungshintergrund sich eher über Empfehlungen der Schulen hinwegsetzen, während Elternhäuser, die selbst nicht in höheren Bildungswegen gelernt haben, den Empfehlungen folgen oder sogar hinter ihnen zurückbleiben.

Der schwarz-grüne Senat in Hamburg meint, das Problem unter dem Motto "Länger gemeinsam lernen" lösen zu können. Ist das der richtige Ansatz?

Längeres gemeinsames Lernen ist ein Instrument, Ungleichheiten im Bildungssystem abzubauen. Wobei ja der Hamburger Weg zwei Elemente hat: Was im Volksentscheid zur Diskussion steht, ist die sechsjährige Grundschule. Dazu soll es weiterführend neben den Gymnasien nun eine Stadtteilschule geben. Diese Stadtteilschulen werden im Gegensatz zu bisherigen Haupt-und Realschulen einen direkten Weg zum Abitur offen halten. Beide Komponenten zusammen sind geeignet, soziale Ungleichheiten zumindest zu mildern.

Die Initiative "Wir wollen lernen" beschwört die Schwächung der Gymnasien herauf. Ein realistisches Szenario?

Sowohl internationale wie nationale Studien belegen das Gegenteil. In Finnland etwa erbringen die besten 30 Prozent der Schüler, die mit unseren Gymnasiasten vergleichbar wären, Leistungen, an die unsere Gymnasiasten nicht herankommen. Länder mit langem gemeinsamen Lernen sind in der Spitze, im Durchschnitt und im schwächeren Bereich besser als unsere Schüler. Nicht automatisch weil sie länger gemeinsam lernen, aber wir sehen, dass es pädagogische Arrangements gibt, wo längeres Lernen bessere Leistung ermöglicht.

National gesehen zeigt die Berliner ELEMENT-Studie, dass Schüler, die in Berlin nach vier Jahren aufs Gymnasium wechseln, sich leistungsmäßig nicht besser entwickeln als Schüler, die nach sechs Jahren wechseln.

Die Reformgegner unterstellen der Bildungssenatorin Goetsch "Angst vor der Individualität". Wird die individuelle Entwicklung der Schüler wirklich behindert?

Prof. em. Dr. Klaus Klemm lehrte bis 2007 Bildungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Er saß zudem im wissenschaftlichen Beirat der PISA-Studien.

Prof. em. Dr. Klaus Klemm lehrte bis 2007 Bildungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Er saß zudem im wissenschaftlichen Beirat der PISA-Studien.

Ich sehe nicht, dass sich Individualität dadurch stärkt, dass man eine Reihe von Individuen von den anderen abgrenzt. Individualität entwickelt sich gerade in der Auseinandersetzung mit der Vielfalt. Es wird ja oft unterstellt, Vielfalt sei gleichmacherisch. Aber weder ist die Grundschule gleichmacherisch, noch können wir behaupten, dass ein Gymnasium nicht vielfältig ist.

In Hamburg gehen 50 Prozent der Schüler eines Jahrgangs zum Gymnasium, das ist eine ungeheuer heterogene Gruppe. Das wird nicht gefährdet. Das längere gemeinsame Lernen zerstört nicht die ohnedies nicht gegebene Homogenität in den Lerngruppen. Wir finden heute schon sehr heterogene Lerngruppen vor, auch in den Gymnasien.

Die Initiative prognostiziert, dass Eltern in Reaktion auf die Einführung der Primarschulen ihre Kinder verstärkt auf Privatschulen schicken könnten. Könnte das der Anfang eines Trends sein, dass Bildung eher als private denn als gesellschaftliche Aufgabe betrachtet wird?

Die Prognose teile ich nicht. In Berlin gibt es die sechsjährige Grundschule schon seit den 50er Jahren und trotzdem gibt es dort nicht mehr Privatisierung als in vergleichbaren Städten. Insofern sehe ich da keine Gefahr durch die Primarschule.

Es gibt aber bei einem Teil der Elternhäuser die Tendenz, sich Bildung zu kaufen. Das hat jedoch mehr damit zu tun, dass im öffentlichen Schulwesen in der Wahrnehmung der Eltern zu viel Unterricht ausfällt und die Klassen zu groß sind. Das ist eher der Antrieb für den Drang kleinerer Elterngruppen, sich Privatschulen zuzuwenden.

Drängt sich bei der Betrachtung des Hamburger Streits nicht auch manchmal der Verdacht auf, dass es weniger um Bildungspolitik geht, als vielmehr um diffuse Ängste?

Eltern, die ihre Kinder aufs Gymnasium schicken, meinen, ihr Kind wäre damit gesellschaftlich auf der sicheren Seite. Umso größer die Anzahl derer wird, die die gleichen Chancen bekommen, umso geringer werden die Chancen dieser Gruppe.

Mal ein historisches Beispiel: Als ich 1962 Abitur gemacht habe, verließen 7 Prozent der Kinder eines Jahrgangs die Schule mit dem Abitur. Wer damals das Abitur in der Tasche hatte, brauchte keinen Notendurchschnitt für ein Studium. Wenn er Arzt werden wollte, wurde er Arzt. Er hatte alle Chancen auf jegliche akademischen Berufe. In dem Maße, in dem immer mehr Schüler Abitur machten, musste sich auch der Arztsohn beim Zugang zum Medizinstudium der Konkurrenz aus anderen Schichten erwehren. Insofern gefährdet ein expansiver Weg zu mehr Bildungschancen die Privilegierten. Ich denke, dass es bei diesen Bildungsfragen ganz massiv um solche Verteilungskämpfe geht.

Mit Klaus Klemm sprach Christian Bartlau

Quelle: ntv.de

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