Das "Paneuropäische Picknick" Bella hat Geschichte geschrieben
19.08.2009, 11:36 UhrDie Hoffnung vieler DDR-Bürger heißt im Sommer 1989 Ungarn. Sie nutzen am 19. August 1989 das "Paneuropäische Picknick" an der ungarisch-österreichischen Grenze, bei dem ein Grenztor symbolisch geöffnet wird, zur Flucht in den Westen.
DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen durch das geöffnete Grenztor von Ungarn aus nach Österreich (Archivbild vom 19. August 1989).
(Foto: picture-alliance/ dpa)
Ein rund acht Meter hoher Wachturm steht da, daneben zwei Reihen Stacheldrahtzaun. Wenn man den Draht berührt, scheppert es, eine kleine Rakete detoniert und eine dünne Rauchsäule steigt in die Höhe. Zu sehen sind diese Werkzeuge der Repression, die illegale Grenzgänger bis zur Wende von 1989 fürchten müssten, heute im Garten von Imre Csapo in Fertörakos (Kroisbach) bei Sopron, dicht an der österreichisch-ungarischen Grenze. Dort nutzten am 19. August 1989 beim so genannten Paneuropäischen Picknick erstmals Hunderte DDR-Bürger eine kurze Grenzöffnung zur Flucht.
Csapo hat damals selbst beim Grenzschutz gearbeitet. Er war Steuermann auf Kontrollbooten am Neusiedler See, in dem ein Teil der ungarisch-österreichischen Grenze verläuft - damals auch ein Teil des Eisernen Vorhangs. Heute ist Csapo Rentner und sammelt alte Grenzschutz-Utensilien.
Ursprünglich als Volksfest geplant
Das "Paneuropäische Picknick" war offiziell als kleines Volksfest zwischen Österreichern und Ungarn auf einer Wiese geplant. Der nahe Grenzzaun sollte dazu für drei Stunden geöffnet werden. Initiatoren waren ungarische Oppositionelle und die Paneuropa-Union des damaligen Europa-Abgeordneten Otto von Habsburg. Hunderte DDR-Bürger nutzten die offene Grenze, um ungehindert in den Westen zu fliehen - vor den Augen erschrockener ungarischer und verblüffter österreichischer Grenzschützer.
Kurz vor dem 20. Jahrestag sind die einst dort verantwortlichen Grenzschützer beider Seiten in Csapos Privatmuseum zum Feiern zusammengekommen. Unter ihnen sind Arpad Bella, damals Leiter der Abteilung Grenzkontrollwesen im Bezirk Sopron, und sein österreichischer Kollege Stefan Biricz, Gendarmeriekommandant von Eisenstadt. "Ja, der Arpad, der stand drüben", erinnert sich Biricz an die große Stunde seines heutigen Duzfreundes.
"Blutbad wäre Wahnsinn gewesen"
Diese erste Massenflucht war der Anfang vom Ende für die DDR mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November.
(Foto: picture-alliance / dpa)
Bella war damals der entscheidende Mann, von dem Ungarns damaliger Vize-Regierungschef Imre Pozgay später sagte: "Gott sei Dank hat er mitgedacht." Bella hat die zum Grenzzaun stürmenden DDR-Bürger an jedem Sommertag auf eigene Verantwortung passieren lassen. "Als die Menschenmenge auf mich zukam, habe ich 20 Sekunden lang daran gedacht, dass ich sie aufhalten müsste", erzählt Bella. "Ich habe es aber nicht getan, denn das hätte ein Blutbad gegeben, es wäre Wahnsinn gewesen." In einer Kaserne der Kreisstadt Sopron standen 50 schwer bewaffnete Grenzschützer als Verstärkung in Bereitschaft.
Zwar hatte Ungarn schon 1975 in einer geheimen internen Anweisung den generellen Schießbefehl abgeschafft und die Grenzschützer durften nur noch zur Selbstverteidigung schießen. Aber wie war die Vorschrift zu interpretieren, wenn Hunderte Menschen die Grenze stürmen? Bella hat sie richtig interpretiert und damit Geschichte geschrieben.
Pozsgay wollte Präzedenzfall schaffen
Dabei hatte das Ereignis den Mann, der äußerst bescheiden auftritt, völlig unvorbereitet getroffen. Er hatte nach Anweisung von oben nur fünf Passkontrolleure zu dem Picknick mitgenommen - für die paar erwarteten Österreicher. Einen offiziellen Grenzübergang gab es dort nicht. Als Bella mit den ankommenden DDR-Bürgern konfrontiert wurde, war kein Vorgesetzter für neue Anweisungen erreichbar.
Vizepremier Pozsgay hatte allerdings geahnt, was passieren würde und für das Picknick die notwendigen Absprachen mit dem Innenminister getroffen. Ihm war klar, dass von den etwa 60.000 ausreisewilligen DDR-Bürgern, die sich damals in Ungarn aufhielten, viele das Picknick zur Flucht nutzen würden. Später bekannte Pozsgay, dass er mit dieser kurzen Grenzöffnung einen Präzedenzfall schaffen wollte.
Wie stark oder schwach ist Gorbatschow?
Doch selbst Pozsgay war sich damals seiner Sache durchaus nicht sicher. Denn für ihn waren die Signale der Führung in Moskau unter Michail Gorbatschow sehr widersprüchlich. Zwar hatte Gorbatschow noch im März 1989 dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklos Nemeth zugesichert, dass Moskau im damals schon reformfreudigen Ungarn nicht bewaffnet eingreifen würde. Doch einen Monat später signalisierte ein Gorbatschow-Berater Poszgay, dass der Kremlchef dem damaligen Vorsitzenden der ungarischen Kommunisten (MSZMP), Karoly Grosz, vertraue, einem Konkurrenten Pozsgays, dem der Vizepremier zutiefst misstraute. "Wir wussten nicht, ob hier ein starker Gorbatschow auf einem schwankenden Thron der Sowjetunion sitzt oder ein schwacher Gorbatschow auf dem festen Thron", erinnert sich Pozsgay. Diese Unsicherheit habe mit dem "Paneuropäischen Picknick" ein Ende gehabt.
Ex-Grenzschützer Csapo serviert selbstgekelterten Blaufränkischen, eine Spezialität dieser berühmten Weinregion. Der pensionierte Gendarmeriechef Biricz erinnert sich an seine damalige Verblüffung. "Jessas, das sind ja Ostdeutsche", hatte er gerufen, als die DDR-Bürger ankamen. Biricz hatte eher mit fliehenden Ungarn gerechnet. Das Picknick war auch mit ihm abgesprochen worden. Die verwirrten Flüchtenden hätten sich zunächst auch vor seiner Uniform gefürchtet, erzählt Biricz. Hektisch habe er Busse für ihre Weiterreise organisiert. Präsent ist dem Österreicher auch, wie sich die Ostdeutschen gefreut hätten, als er sie mit einem "Gute Reise nach Wien", verabschiedet hatte. "Für diese Leute war Wien damals doch noch weiter weg als Wladiwostok."
Quelle: ntv.de, Kathrin Lauer, dpa