Pressestimmen

Flüchtlingsdrama auf Lampedusa "Grundrecht auf Asyl gilt nicht mehr"

Fast 6000 Tunesier sind bereits über Lampedusa nach Europa gekommen.

Fast 6000 Tunesier sind bereits über Lampedusa nach Europa gekommen.

(Foto: AP)

Seit Mitte Januar sind knapp 5300 tunesische Flüchtlinge in Italien angekommen. Die Regierung in Rom verlangt Geld aus Brüssel, um den Flüchtlingsansturm bewältigen zu können, und will 200 zusätzliche Soldaten zur Kontrolle der Auffanglager abkommandieren. Was ist zu tun?, fragen sich die Kommentatoren der deutschen Tageszeitungen, denn es ist zu befürchten, dass noch Zehntausende aus Nordafrika fliehen wollen.

"Die EU muss endlich eine glaubwürdige Entwicklungspolitik in Tunesien und den Nachbarländern betreiben", liest man dazu in der Leipziger Volkszeitung. Und die EU dürfe sich nicht darauf beschränken, "die Grenzen der nordafrikanischen Despotenstaaten mit polizeilicher Hilfe noch besser abzusichern. Nun geht es vor allem darum, mit bevölkerungsnahen Hilfsprojekten Millionen von verarmten Nordafrikanern Arbeit und Perspektiven zu geben. Trotz aller Fensterreden zeichnet sich Europas Nordafrika-Politik vor allem durch Hilflosigkeit aus: Seit Jahren werden die Wüsten-Diktatoren mit Brüsseler Millionen-Hilfe unter dem Etikett 'Mittelmeer-Partnerschaft' bei Laune gehalten."

Einlass in die neue Welt.

Einlass in die neue Welt.

(Foto: dpa)

Die Financial Times Deutschland fragt sich, warum die EU den aktuellen Ansturm auf Lampedusa nicht zum Anlass nimmt, ihre gesamte Asylpolitik zu überdenken und die Flüchtlinge, die in Italien landen, auf andere Mitgliedsländer zu verteilen. "Das rüttelt an lieb gewonnenen Illusionen jener Länder, die keine Südgrenzen haben. Bisher setzt die Gemeinschaft vor allem darauf, die Schotten so dicht wie möglich zu machen - und nimmt sehenden Auges in Kauf, nicht nur Wirtschaftsflüchtlinge, sondern auch politisch Verfolgte auszusperren. Das Grundrecht auf Asyl, das im Grundgesetz verankert ist, gilt längst nicht mehr. Hinzu kommt, dass jährlich hunderte Menschen im Mittelmeer ertrinken, weil sie in wackeligen Booten nach Europa streben. Eine Möglichkeit wäre, die Flüchtlinge in Nordafrika abzufangen - politisch Verfolgten dort aber anders als bisher die Möglichkeit zu geben, Asyl zu beantragen."

Die Augsburger Allgemeine zeigt erst einmal Verständnis: Europa könne ja nicht jeden Tunesier aufnehmen, der arbeitslos geworden ist. "Europa wird auch überfordert sein, wenn die Flüchtlingsströme aus Schwarzafrika, künftig auf die direkte und nicht mehr abgesperrte Route über Tunesien umschwenken. Dies heißt aber nicht, dass sich Europa komplett abschotten darf. Es ist eine humanitäre Verpflichtung unseres Kontinents, Emigranten aufzunehmen. Aber der augenblicklich chaotische Prozess muss durch ein kontrolliertes Verfahren abgelöst werden. Langfristig können Flüchtlingsströme nur reduziert werden, wenn die Menschen in ihrer Heimat ein gutes Leben führen können. Dabei zu helfen, wird in Zukunft eine der großen Aufgaben Europas sein. Schon im eigenen Interesse."

Der Kommentator der Stuttgarter Zeitung erinnert an die Festungsmentalität Deutschlands und ganz Europas. Sie sei inhuman und im Umgang mit den noch jungen Demokratien Nordafrikas schlicht nicht mehr praktikabel. "Neben der Hilfe vor Ort, die die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton gestern zugesagt hat, könnte eine Idee Wolfgang Schäubles aus seiner Zeit als Bundesinnenminister den Ausweg weisen: Die zirkuläre Migration, eine legale Einwanderung auf Zeit also, würde nicht nur den Druck an Europas Außengrenzen reduzieren. Sie böte den Nordafrikanern auch eine Entwicklungsperspektive. Sie hätten die Chance, nach der Rückkehr mit europäischem Know-how am Aufbau ihrer Länder mitzuwirken. Für Europa gilt es, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen."

Die Frankfurter Rundschau vermutet, dass Italien vom Sturz der Regime in Tunis und Kairo noch überraschter als andere westliche Regierungen war. Dabei stehe es Nordafrika nicht nur geografisch nahe, sondern auch kulturell und historisch. "Auf den Flüchtlingsansturm antwortet die Regierung mit der bekannten Mischung aus Alarmismus, politischer Härte und Hilflosigkeit. Immerhin hat sie von Massenabschiebungen vorerst abgesehen. In einem Punkt aber hat sie recht. Es ist kein rein italienisches Drama, das sich jetzt wieder im Mittelmeer abspielt, sondern ein europäisches. Doch auch Europa glänzt mit vertrauten Reaktionen: abwarten, ausweichen, abschotten."

Der Kölner Stadt-Anzeiger meint, dass die Europäer nun gleich doppelt gefordert sind: "Sie müssen Italien helfen, mit den Flüchtlingen menschenwürdig umzugehen. Und sie müssen vor allem Tunesiern und Ägyptern so schnell die Perspektiven zum Verbleib im eigenen Land verschaffen, wie sie einst die europäischen Banken retteten. Allen sollte nämlich klar sein: Man kann die Menschen nicht mehr in ihren eigenen Ländern einsperren. Die Chance, auf die Entwicklung in Nordafrika positiven Einfluss zu nehmen, hat die EU jetzt. Dass in Brüssel noch nicht über einen Sondergipfel diskutiert wird, ist ein schlechtes Zeichen. Das Geld ist ja da. Es wurde bisher den Despoten in die Taschen gesteckt."

Quelle: ntv.de, Zusammengestellt von Peter Richter

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