Nicht irgendeine Armensiedlung Slum der Zauberer in Delhi
18.04.2012, 11:29 UhrDie Bewohner der Kathputli Colony in Neu Delhi sind weltbekannte Zauberer, Musiker und Artisten. Doch ihre Heimat ist ein Slum. Und Slums sollen in Indien aus den Städten verschwinden. Wenn sich mal Ausländer hierher verirren, bekommen sie eine Führung - und die Sorgen der Bewohner erzählt.
Rehman Khan hält mit spitzen Fingern eine kleine Murmel in die Luft und zeigt sie seinen drei Zuschauern in Neu Delhi. Die Kugel hat etwa den Durchmesser eines Fünf-Cent-Stücks. Ihr grünes Glas funkelt in dem Sonnenstrahl, der durch das scheibenlose Fenster in Khans winzige Lehmhütte mit dem kleinen Regal und der Pritsche fällt. Plötzlich reißt der Inder die Augen auf, nimmt die Murmel zwischen die Zähne und schließt langsam die Lippen.
Auf einmal krümmt sich Khan. Der 42-Jährige würgt, schlägt sich auf die Brust, atmet hektisch und öffnet schließlich mit erstauntem Gesichtsausdruck den Mund: Zwischen seinen Zähnen steckt eine grüne Murmel - sie ist allerdings so groß wie ein Golfball. Applaus.
Khan ist ein Zauberer, ein Meister der traditionellen Magie Indiens. Mit seiner Kunst hat er den Subkontinent auf Festivals in Südafrika, Mexiko und den Niederlanden vertreten - aber wenn er in seiner ärmlichen Hütte die Glühbirne an der Decke anschalten möchte, muss er unter Lebensgefahr die losen Kabel-Enden mit der Hand in die selbst gebaute Steckdose friemeln. Das Geld, dass er mit seinen Auftritten auch im Ausland verdient, reicht nicht für mehr, schon gar nicht für ein richtiges Haus in der indischen Hauptstadt.
Spielplatz, Abwasserkanal und Toilette in einem
Khan lebt in der Kathputli Colony, einem Slum im Westen von Neu Delhi. Der Weg vor seiner Hütte ist etwas mehr als schulterbreit und dient gleichzeitig als Spielplatz, Abwasserkanal und öffentliche Toilette. Fliegen schwirren durch die Luft, ein Geruchsgemisch aus Essen, Müll, Fäkalien und Moder schlägt auf die Nase. Wie alle Slums in Indien ist Kathputli ein Ärgernis für die Behörden.
Doch auch die Beamten wissen, dass die Kolonie nicht irgendeine Armensiedlung ist: Sie ist eine der kulturellen Hochburgen Indiens. Seit Generationen ist Kathputli Heimat von Puppenspielern, Stelzenläufern, Seiltänzern, Trommlern, Feuerspuckern, Schwertschluckern und Magiern wie Khan. Schätzungsweise 2800 indische Künstlerfamilien verschiedenster Herkunft und Religionen haben hier zwar kaum mehr als ein Dach über dem Kopf, doch das Leben in dieser Multikulti-Großfamilie ist friedlich - und die Feste sind legendär.
Rauschende Hochzeiten trotz Armut
Hochzeiten in Kathputli gehören zu den rauschendsten Feierlichkeiten der Welt, sagen die Bewohner - und sie wissen, wovon sie sprechen: Wie Khan sind viele durch ihre Auftritte weit gereist. In ihren besten Kleidern versammeln sich dann Hunderte Gäste im bunten Hochzeitszelt, auf einem Podest sitzen Braut und Bräutigam in purpurroten Polstersesseln, es gibt ein Festessen und für einen Moment bleibt die Armut dann draußen.
Meistens lässt sich die Armut aber nicht aussperren, sie ist mit all ihren Auswirkungen gut sichtbar. Halbnackte Kinder spielen im Müll, die medizinische Versorgung der Kolonie ist schlecht, die Schulbildung gering. Neben den Künstlern haben sich am Rande des Slums Bettler, Tagelöhner und Leprageschädigte angesiedelt. Trotz seiner einzigartigen Künstler ist die Zukunft Kathputlis und seiner Bewohner gefährdet.
"Seit ich denken kann, soll die Kolonie angeblich abgerissen werden", sagt Satish. Der 19-Jährige - glänzendes Haar, graues Hemd, schwarze Stoffhose, geputzte Lederschuhe - ist einer aus dem Slum, der es geschafft hat. An zwei Tagen pro Woche studiert er Ingenieurswesen, den Rest der Zeit verdient er als Trommler Geld für seine Familie. Sein Englisch ist fließend und fast akzentfrei.
Führungen für Ausländer
Daher rufen die Leute Satish und seinen Freund Kailash, wenn sich Ausländer in die Kolonie verirren. Für ein paar hundert Rupien, weniger als zehn Euro, führen sie die Besucher dann durch ihre schmutzige Heimat. Sie organisieren Auftritte ihrer Freunde und Verwandten und berichten von ihren Sorgen.
"Vor den Wahlen ist es immer am schlimmsten", sagt Kailash, der mit seinem halblangen Haar und dem Dreitagebart eher an einen Rockstar als an einen traditionellen indischen Trommler erinnert. "Dann erzählen sie in der Stadt, dass hier ein Hochhaus und eine Wohnsiedlung hin sollen - und uns versprechen sie, die Wege auszubauen." Doch in letzter Zeit verdichten sich die Hinweise, dass es diesmal ernst sein könnte mit dem Hochhaus und dem Abriss des Slums: Die Stadt hat mittlerweile die Hütten der Kolonie nummeriert und einen Ort für ein Übergangsquartier genannt.
Wer Dokumente über seine Behausungen im Slum besitze, bekomme eine neue Wohnung zugewiesen, heißt es. Doch die anfangs legal erbaute Kathputli Colony hat sich mit den Jahren immer schneller ausgebreitet. Viele Bewohner haben für ihre Kinder neue Hütten errichtet - von Hand, mit Freunden, ohne Dokumente. Sollte der Slum abgerissen werden, würden sie obdachlos. "Wir würden ja Platz machen", sagt Kailash. "Aber wir leben hier seit Jahrzehnten gemeinsam. Also gehen wir entweder alle - oder keiner."
Quelle: ntv.de, Malte Laub, dpa