Alles kann passieren Stürze und Triumphfahrten: Tour-Lehren 2017
23.07.2017, 10:11 Uhr
Richie Ports schwerer Sturz beendete alle Tour-Träume. Der Australier wird bei der Frankreich-Rundfahrt 2018 wieder angreifen.
(Foto: picture alliance / Christophe En)
3540 Kilometer, 21 Etappen, davon neun Flachstücke und je fünf Mittelgebirgs- und Bergetappen, dazu drei Bergankünfte und zwei Einzelzeitfahren, die mit insgesamt 36,5 Kilometer recht kurz ausgefallen sind sowie 198 gestartete Fahrer: Das sind die nackten Zahlen der 104. Austragung der Tour de France. Aber was steckt dahinter? Welche Geschichten, welche Tragödien oder Triumphe erzählen sie? Was bleibt am Ende der Tour 2017 im Gedächtnis der Radsportfans?
1. Die Tour ist erst in Paris zu Ende
Erst mit der Fahrt auf dem Champs-Élysées endet die Tour de France. Diese Weisheit ist ungefähr so alt wie die Tatsache, dass ein Fußballspiel erst dann beendet ist, wenn der Schiedsrichter abgepfiffen hat. Mehrere Fahrer mussten das in diesem Jahr schmerzlich erfahren: etwa Alejando Valverde (Sturz und Tour-Aus bereits auf der 1. Etappe, dem 14 Kilometer langen Prolog in Düsseldorf), Richie Porte (Schwerer Sturz mit rund 80 km/h in einer Abfahrt auf der 9. Etappe nach Chambéry und Tour-Aus), Marcel Kittel (Tour-Aus und Verlust des schon sicher geglaubten Grünen Trikots nach Verwicklung in Massensturz auf der 17. Etappe nach Chevalier) oder Peter Sagan.
Der Weltmeister vom deutschen Team Bora-hansgrohe muss seinen Traum von Grünen Trikot - es wäre das sechste in Folge gewesen, der Rekord von Erik Zabel, dem das von 1996 bis 2001 gelungen war, wäre eingestellt gewesen -, bereits nach der 4. Etappe im Zielort Vittel begraben. Die Jury disqualifizierte ihn und warf den Slowaken und Tour-Star ohne Anhörung aus der Tour, nachdem er im Zielsprint den Briten Mark Cavendish mit seinem Ellbogen zu Fall gebracht haben soll. Nicht nur für den ehemaligen deutschen Top-Sprinter Olaf Ludwig eine "absolute Fehlentscheidung", auch Sagan-Konkurrent André Greipel fand das Jury-Urteil "zu hart".
2. Team Sky ist das FC Bayern München des Radsports
Der Brite Christopher Froome hat zum vierten Mal die Tour gewonnen (und diesmal, ohne eine einzige Etappe zu gewinnen). Einer der Hauptgründe: das Team Sky. Es ist der Rennstall mit dem wohl größten Etat, es werden rund 30 Millionen Euro kolportiert. Und mit diesem Kapital holt sich der Rennstall die besten Fahrer anderer Mannschaften: Sergio Henao, Michal Kwiatkowski, Mikel Landa - alle drei könnten in anderen Mannschaften die Kapitänsrolle übernehmen.
Landa verlässt Sky sehr wahrscheinlich und fährt in der kommenden Saison für ein anderes Team. Das Froome damit ein weiterer Gegner erwächst, gilt als sicher, denn auch der Australier Richie Porte fuhr einst als Helfer im Team Sky. Jetzt ist er Kapitän beim BMC-Team und war bis zu seinem Sturz der härteste Konkurrenz Froomes.
3. Die Tour ist nicht gefährlicher geworden
Valverde, Porte, Kittel, Cavendish: Prominente Tour-Namen, alle mussten die Rundfahrt nach Stürzen verletzt beenden. Und die Liste der Sturzopfer bei der diesjährigen Tour ist noch länger: Ion Izagirre, Gerraint Thomas ... Experten sind sich dennoch sicher, dass die Tour nicht gefährlicher geworden ist: "Sie war es schon immer", sagt etwa Ex-Radsportstar Olaf Ludwig im n-tv.de Interview: "Brutal gesagt: Die Fahrer müssen ihre Fahrweise den Bedingungen anpassen."
Es ist aber auch ein Teufelskreis: Willst du die Tour gewinnen, musst du immer und überall bereit sein, anzugreifen. Das gilt bergauf, aber auch bergab. In einem Bruchteil einer Sekunde muss sich der Fahrer entscheiden, welche Linie er auf der Schussfahrt wählt. Ein Verbremser oder eine Unaufmerksamkeit reichen dabei dann schon aus, um alle Siegträume platzen zu lassen - eben wie bei Porte oder auch Valverde.
Bei den Sprintankünften haben die Organisatoren bereits aus den vergangenen Jahren die richtigen Schlüsse gezogen und vielerorts bereits die letzten Kilometer entschärft: weniger Kreisverkehre oder Haarnadelkurven; eine Streckenführung, die kein großes Feld ankommen lässt oder wo gefährliche Windkanten ausgeschlossen sind. Bis auf das Gerangel zwischen Sagan und Cavendish gab es in diesem Jahr keinen schweren Sturz bei einem Zielsprint.
4. Kurzfristig kann man bei der Tour nichts reißen

Warren Barguil (l.) und Michael Matthews: starkes Sunweb-Duo.
(Foto: picture alliance / Christophe En)
Wie beim Fußball braucht es Jahre, bis aus einem Rennstall ein perfekt funktionierendes Team entsteht, wo jedes Rädchen ineinandergreift, wo Ritzel und Kette perfekt geschmiert laufen. Das passende Beispiel liefert das mit einer deutschen Lizenz fahrende Team Sunweb, das seinen Sitz in den Niederlanden hat. Die Ursprünge liegen beim Team Shimano (2005), die Hauptsponsoren wechselten mehrfach (etwa Skil, Argos oder Giant, Alpecin).
Die Philosophie blieb dabei gleich: junge Fahrer ans Profi-Peloton heranführen, sie Stück für Stück aufbauen. Sunweb unterhält zu diesem Zweck auch ein U23-Team. Die Nachwuchsarbeit zahlt sich nun aus. Vier Etappensiege bei der diesjährigen Tour, dazu das Grüne Trikot durch Michael Matthews und das Berg-Trikot durch Warren Barguil machen deutlich, dass man auch als Team mit einem kleineren Etat und ohne eigentlichen Top-Klassementfahrer (Tom Dumoulin hatte nach dem Giro-Sieg seine Tourteilnahme abgesagt) gut leben kann - wenn man etwas Geduld mitbringt, die Mannschaft nach und nach aufbaut und systematisch aufeinander abstimmt. Auch Ag2r-La Mondiale verfährt so - mit Erfolg (Romain Bardet: Tour-Zweiter 2016, Tour-Dritter 2017).
5. Die Zeiten, in der man Giro und Tour in einem Jahr gewinnen kann, sind vorbei

Nairo Quintana: eine der sportlichen Enttäuschungen bei der Tour.
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Lange galt es als das Ultimative im Radsport, Giro und Tour in einem Jahr zu gewinnen. Lediglich sieben Profis ist dieses Kunststück gelungen: Fausto Coppi (1949, 1952), Jaques Anquetil (1964), Eddy Merckx (1970, 1972, 1974), Bernard Hinault (1982, 1984), Stephen Roche (1987), Miguel Indurain (1992, 1993) und zuletzt Marco Pantani (1998). Roche gelang es sogar, bei Giro, Tour und die WM in einer Saison zu triumphieren.
Alberto Contador ist 2015 kläglich am Double-Anspruch gescheitert. Nun trifft es Nairo Quintana. Der Vorjahresdritte der Tour wollte Giro und Tour in diesem Jahr gewinnen. Beim Giro musste sich der Kolumbianer, der 2016 die Vuelta gewonnen hatte, hinter dem Sunweb-Profi Tom Dumoulin mit Platz 2 zufrieden geben. Es war Quintanas erster Giro-Start.
Bei der Tour wollte er nach einem zweiten Rang 2016 und dem zweiten Platz 2015 in diesem Jahr triumphieren. Aber der Giro steckte noch in seinen Beinen, die Kraft an den Anstiegen fehlte und so lag er am Ende in Paris auf dem 12. Rang mit mehr als 15 Minuten Rückstand auf den Gesamtsieger Froome. Die Zeiten, in dem ein Fahrer das Double holen konnte, sind endgültig vorbei.
6. Die Begeisterung für die Tour ist ungebrochen
Die Tour ist und bleibt ein Zuschauermagnet. Festina-Skandal? Rabobank-Skandal? Fuentes-Skandal? Armstrong-Skandal? Egal, die Masse der Fans hält dem Radsport die Treue. Die Straßenränder an den Start- und Zielorten sowie an den Strecken, egal ob flach, hügelig oder Bergankunft, sind voller jubelnder Menschenmassen. Angefangen an den verregneten deutschen Tour-Tagen des Prologs in Düsseldorf und auf der 2. Etappe nach Lüttich, bis hin zur Schaufahrt auf dem Pariser Prachtboulevard Champs-Élysées herrschte eine Stimmung, die positiver nicht hätte ausfallen können.
Zudem machte der Tour-Start in Deutschland deutlich, dass das Zuschauer-Phänomen Tour de France nicht nur auf Frankreich selbst beschränkt ist. Zuvor hatten das auch schon die Starts etwa in Lüttich (2012), Leeds (2014) oder auch Utrecht (2015) gezeigt. Nach einem Heimspiel 2018 geht die Tour 2019 zum Start wieder auf Reise: Brüssel darf sich dann über Hunderttausende Radsport-Fans freuen.
7. Bei der Tour kann alles passieren
Fazit: Bei der Tour ist alles möglich. Ein Weltmeister kann disqualifiziert werden, ein klares Grünes Trikot noch einmal den Besitzer wechseln und das Podium um eine Sekunde verfehlt werden. Auch dass die beiden Top-Teams dieses Jahr, Sky und Ag2r-La Mondiale vor der drittplatzierten Mannschaft Trek-Segafredo fast 1:45 Stunden trennen, ist drin. Oder dass das Weiße Trikot des besten Nachwuchsfahrers im Familienbesitz der Yates' bleibt: Nach Adam Yates im Vorjahr holt es sich dieses Jahr sein Bruder Simon.
Es ist auch denkbar, dass der "Ewige Zweite" Raymond Poulidor einen würdigen Nachfolger gefunden hat: Rigoberto Uran. Der Kolumbianer schaffte es bisher auf Platz zwei beim Giro 2013 und beim Giro 2014 sowie bei der Tour de France 2017. Dass das aber nicht das Ende der Fahnenstange sein muss, weiß ein ehemaliger "Ewiger Zweiter": Cadel Evans. Bevor der Australier 2011 den Tour-Sieg holte, war er 2007 und 2008 Zweiter geworden - mit 23 und 58 Sekunden Rückstand. Uran hatte 2017 54 Sekunden. Es kann also auch bei der Tour 2018 alles passieren.
Quelle: ntv.de