Ex-Tourstar Ludwig im Interview "Kittel ist der mit Abstand beste Sprinter"
18.07.2017, 09:37 Uhr
14 Etappensiege bei der Tour, davon 5 in diesem Jahr. Olaf Ludwig traut Marcel Kittel weitere Siege zu, vor allem auf dem Champs-Élysées sei Kittel absoluter Favorit.
(Foto: REUTERS)
Die Tour de France 2017 ist spannend wie lange nicht - mit einer Ausnahme: die Massensprints. Der Thüringer Marcel Kittel gewinnt sie nach Belieben. Was macht ihn so schnell? Was zeichnet ihn aus? Was hat sich bei den Sprints verändert? Und: Wer gewinnt die Tour? Ex-Sprintstar Olaf Ludwig liefert n-tv.de die Antworten.
Olaf Ludwig, 1960 in Gera geboren, gewann 1982 und 1986 die Internationale Friedensfahrt. Er wurde 1988 Olympiasieger im Straßenrennen von Seoul. Bei den Profis gewann er drei Etappen bei der Tour de France und holte 1990 das Grüne Trikot des Punktbesten. 1992 wurde er Gesamtsieger im Rad-Weltcup, ein Jahr später Dritter bei der Straßenrad-Weltmeisterschaft. Nach der sportlichen Karriere wechselte er ins Management und war etwa Sportlicher Leiter beim deutschen Profirennstall Team T-Mobile. Heute kümmert er sich - ohne Funktion - um den Nachwuchsradsport in seiner Thüringer Heimat und veranstaltet Jedermann-Rennen sowie Radreisen. Ludwig ist einer der erfolgreichsten deutschen Radsportler aller Zeiten.
n-tv.de: Sie waren Anfang der 1990er-Jahre einer der Top-Sprinter im Profi-Peloton. 1990 gewannen Sie bei der Tour de France das Grüne Trikot des Punktbesten. Dieses Jahr könnte es wieder an einen Thüringer gehen. Wie schätzen Sie die Chancen von Marcel Kittel ein?
Olaf Ludwig: Nach dem jetzigen Stand sind seine Chancen sehr groß. Allerdings haben die Stürze, Verletzungen und Ausstiege der vergangenen rund zwei Wochen auch gezeigt, dass man wirklich erst in Paris angekommen ist, wenn man auf dem Champs-Élysées über den Zielstrich gefahren ist. Aber rein sportlich sind die Chancen für Kittel auf alle Fälle da. Auch die, noch eine Etappe zu gewinnen.
Bisher hat er bei dieser Frankreich-Rundfahrt fünf Etappensiege eingefahren. Insgesamt sind es 14 - beides deutsche Rekorde. Was zeichnet den 29-Jährigen aus?
Aktuell ist er einfach in einer blendenden Verfassung. Derzeit passt alles zusammen: sein Leistungsvermögen, seine Explosivität, die Endgeschwindigkeit. Er kann aus allen Positionen heraus den Sprint gewinnen. Aber er hat eben auch das Vertrauen in den Sprint, intuitiv einfach das Richtige zu machen. Es sind oft Kleinigkeiten, die über einen Sprintsieg entscheiden, die man von außen gar nicht sehen kann. Kittel hat auch schon Situationen gehabt, wo er gedacht hat, er ist top drauf, aber dann wählst du das falsche Hinterrad, der Zug läuft nicht, das Loch vor dir macht sich nicht auf - und schon ist der Sprint vorbei und ein anderer hat gewonnen. In diesem Jahr ist es einfach so: Er hat eine Etappe gewinnen, dann die nächste und schon hast du als Sprinter eine Sicherheit, eine Souveränität, die Beine sind lockerer, der Kopf ist frei und so gewinnst du eben weiter. Aber Fakt ist auch: Kittel ist derzeit der mit Abstand beste Sprinter im Peloton!
Hohe Endgeschwindigkeit, Tempohärte: Welche Rolle spielen da Kittels Zeitfahr-Fähigkeiten? Als Junior war er ja auch Zeitfahr-Weltmeister ...
Das hilft ihm natürlich, beziehungsweise kommt ihm zugute, siehe Prolog - da war er ja von den Sprintern mit Abstand der Beste. Man kann vieles trainieren, aber manches hast du eben einfach oder nicht. Den Blick oder das Gefühl für das Renngeschehen - wann ist der richtige Moment für mich, anzutreten? Diese Fähigkeit besitzt Kittel. Dazu kommt, einen kühlen Kopf zu behalten und nicht panisch zu werden, wenn die richtige Rennsituation mal nicht eintritt. Auch darüber verfügt Kittel. Er hat in den vergangenen Jahren ein Auge dafür entwickelt, dazu die Geschwindigkeit und schon passt alles.
Kittel ist jetzt 29. Ist das das beste Alter für einen Sprinter? Oder kommt da vielleicht sogar noch mehr?
Mit 29 ist sicherlich noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht, siehe André Greipel. Aber klar ist auch, je älter du wirst, umso schwieriger wird es, kontinuierlich erfolgreich zu sein. Kittel soll seine Erfolge jetzt genießen! Ich bin überzeugt, dass er in Grün in Paris einfährt. Sollte er dann dort auf dem Champs-Élysées noch einmal gewinnen, wäre das das i-Tüpfelchen.
Welche Rolle spielt sein Team Quick-Step? Es ist ja nicht vollkommen auf ihn abgestimmt: Kapitän ist Daniel Martin, der durchaus noch aufs Podium im Gesamtklassement fahren kann.
Das stimmt. Aber Kittel ist auch keiner, der sagt: Ich brauche sechs Leute, die mir den Sprint anfahren. Kittel ist bereits das zweite Jahr bei Quick-Step, hat sich da auch mittlerweile ein gewisses Standing erarbeitet. Es gibt die Fahrer im Team, die für ihn fahren, die ihm helfen. Und die Erfolge zeigen, dass das Team derzeit so alles richtig macht. Und es gilt immer noch: Ohne Team, egal ob bergan oder im Sprint, kannst du nicht bestehen!
Oft sieht man als Zuschauer die wirkliche Team-Arbeit auch nicht ...
Richtig. Ein Team kann auch gut gearbeitet haben, wenn es die letzten Kilometer vor dem Ziel nicht vorn zu sehen ist. Die Etappen sind 150 Kilometer, 200 Kilometer lang: Da gibt es immer Situationen, wenn man da sein Team nicht hat, kann man einpacken - etwa nach einer Reifenpanne wieder ins Feld zurück geführt werden.
Wie viel Etappen gewinnt Kittel bei dieser Tour denn noch?
(lacht) Ich denke, mindestens eine: Er ist im reinen Massensprint derzeit nicht zu schlagen. Die anderen Teams müssen nun entweder auf größere Ausreißergruppen setzen oder das Team Quick-Step auf den Flachetappen durch wiederholte Attacken kleinerer Fahrergruppen permanent zur Nachführarbeit zwingen. Aber das muss halt auch erst einmal passieren. Ich denke aber, dass es zumindest auf der letzten Etappe in Paris einen Massensprint geben wird. Der Prestigefaktor ist einfach zu hoch, als dass man da Ausreißer fahren lassen würde. Und auf dem Champs-Élysées sehe ich Marcel dann als Sieger. Im Grünen Trikot!
Sie und Kittel verbindet, dass Sie Ihre sportlichen Anfänge in Thüringen hatten. Ist das ein Zufall?
Sieht auf den ersten Blick nach Zufall aus. Ich bin mit seinem Vater damals gefahren, er in Erfurt, ich in Gera. Auf den zweiten Blick muss man sagen, dass viele erfolgreiche Fahrer Thüringer Wurzeln haben. Thüringen hat eine Radsport-Tradition - und auch eine sehr gute Nachwuchsarbeit über Jahre gehabt. Stichwort: U23-Mannschaften wie Team Köstritzer oder danach Team Thüringer Energie. Dazu die U23-Rundfahrt. Das sorgt für Aufmerksamkeit, Vorbilder und hat vielen Kindern damals Lust gemacht, selbst aufs Rennrad zu steigen. Also letzten Endes: Tradition, talentierte Sportler und eine sehr gute Ausbildung.
Überhaupt - immer wieder gibt es deutsche Top-Sprinter: Olaf Ludwig, Erik Zabel, Danilo Hondo, John Degenkolb, Andre Greipel, Marcel Kittel ... Wie kommt das?
Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Aktuell sind wir sehr da im Sprintbereich sehr stark aufgestellt, und das bereits über Jahre. Aber es gab auch andere Zeiten. Es gibt eben Jahrgänge, da sind gleich zwei, drei, vier sehr gute Sprinter dabei. Dann hast du wieder Jahrgänge, da schafft es keiner.
Im Vergleich zu Ihrer Profizeit: Was hat sich denn im Sprint in den letzten Jahrzehnten verändert?
Die entscheidendste Veränderung: Die Leistungsdichte hat enorm zugenommen. Dadurch steigen auch die Geschwindigkeiten und die Sprints werden risikoreicher. Als Rudi Altig gefahren ist, da stand am Ziel ein Schiedsrichterwagen, der konnte die ersten zehn Plätze feststellen. Das ging mit bloßem Auge noch, auch wenn die damals schon nicht langsam gefahren sind. Zu meiner Zeit wurde das schon schwieriger. Da brauchte man dann schon eine Kamera. Heute fahren auf drei Meter zehn Mann über den Zielstrich. Bei einem Kittel-Etappensieg betrug sein Vorsprung sechs Millimeter. Wahnsinn eigentlich.
Einer Ihrer Top-Gegner war damals der Usbeke Dschamolidin Abdushaparow, der auch 1991 das Grüne Trikot bei der Tour gewann. Er war für seinen "auslandenden" und zum Teil gefährlichen Fahrstil bekannt. Auf gut Deutsch: Er brauchte immer etwas mehr Platz. Wie sehen Sie das Sprintduell zwischen Mark Cavendish und Peter Sagan auf der vierten Etappe? War der Tour-Ausschluss des Weltmeisters zu hart?
Ich gehe noch weiter: Für mich war das eine absolute Fehlentscheidung. Es war ein Sprintduell. Es gibt genug Videos, auf denen man sieht, dass der ausgefahrene Ellbogen von Sagan nichts mit dem Sturz von Cavendish zu tun hat. Die Jury hat diese Fernsehbilder und auch die nötige Zeit gehabt. Deshalb kann ich den Ausschluss absolut nicht nachvollziehen.
Überhaupt: Es gab viele Stürze, einige Top-Klassementfahrer wie Richie Porte, Gerrant Thomas oder Alejandro Valverde hat es erwischt. Ist diese Tour zu hart, ist die Streckenführung gefährlicher geworden?
Die Tour war schon immer hart. Und auch die Streckenführung ist nicht gefährlicher geworden, sie war es vielmehr schon immer. Wenn man 200 Kilometer durch die Pyrenäen fährt, muss jedem klar sein, dass man diese 200 Kilometer nicht komplett absichern kann. Die Rennfahrer, brutal gesagt, müssen ihre Fahrweise den Bedingungen eigentlich anpassen. Das tun sie aber meistens nicht, weil es um den Etappensieg geht, ums Gelbe Trikot, um Prestige. So leid mir das für Fahrer wie Valverde oder Porte auch tut - vor allem Letzterer hätte dieses Jahr durchaus Chancen auf den Gesamtsieg gehabt - es waren eigene Fehler, die zum Sturz und zum Ausscheiden geführt haben. Mangelnde Konzentration, zu großer Ehrgeiz. Ich bin der Meinung, dass die Tour de France die große Rundfahrt ist, bei der am meisten auf die Sicherheit der Fahrer geachtet wird.
Welche Rolle spielt bei all dem das Geld?
Geld spielt immer eine Rolle! Das ist doch ganz klar. Der Leistungsdruck ist enorm, wird für die einzelnen Rennfahrer immer größer. Wenn es um Sicherheitsfragen geht, müssten sich die Profis zumindest einmal organisieren. Dann wäre ihr Einfluss auch größer. Derzeit sind die Rennfahrer das schwächste Glied.
Trotz oder auch wegen der Stürze und Ausfälle: In der Gesamtwertung ist es dieses Jahr spannend wie schon lange nicht mehr. Wer gewinnt am Ende die Tour de France 2017?
Zum Start der Tour habe ich gesagt: Wenn man auf Christopher Froome und Peter Sagan tippt, als Träger von Gelb und Grün, kann man keinen Blumentopf gewinnen. Jetzt ist mein Favorit für Grün ganz klar Marcel Kittel. Und als Toursieger wäre für die Franzosen zwar Romain Bardet ein Knaller. Aber ich glaube, dass am Ende der Italiener Fabio Aru ganz oben auf dem Podium stehen wird.
Ganz oben stand bisher erst ein Deutscher: Jan Ullrich 1997. Wann gibt es wieder einen deutschen Gesamtsieger?
Das kann man nicht vorhersagen. Emanuel Buchmann ist noch jung. Er wird zwar bereits hoch gehandelt. Aber das finde ich falsch, wie das Beispiel Tejay van Garderen gezeigt hat. Der US-Amerikaner wurde auch in jungen Jahren bereits als der nächste Tour-Sieger gesehen. Er konnte diese Erwartungen aber nie erfüllen. Man braucht eine gewisse Zeit, um sich nach ganz oben zu arbeiten: Froome und Porte sind beide 1985 geboren, Bardet und Aru 1990. Buchmann ist talentiert, keine Frage, kann die nächsten Jahre auch unter die Top Ten fahren. Aber die Deutschen sollten die Kirche im Dorf lassen! Derzeit ist es eher so: Sobald einer halbwegs gut Berge fahren kann, wird er sofort in den Himmel gehoben und ein gewisser Druck aufgebaut. Man muss abwarten. Ullrich war ein Rennfahrer mit einem Talent, so etwas gibt es nur alle 50 Jahre mal.
Mit Olaf Ludwig sprach Thomas Badtke
Quelle: ntv.de