Voller Akku in sieben Minuten Nio EL6 - wird der Premium-Chinese Audi & Co. gefährlich?


Nio EL6 - das SUV verfügt über jede Menge Sensorik. Die Scheinwerfer sehen futuristisch aus. LED-Matrix-Technologie ist serienmäßig.
(Foto: Patrick Broich)
Nio bietet in Deutschland inzwischen eine ganze Modellpalette an. Doch haben die Produkte auch gegen deutsche Marken eine Chance? Die Zukunft wird es zeigen. Wie sich das Mittelklasse-SUV EL6 schlägt, findet ntv.de jetzt schon heraus.
Der deutsche Automarkt ist zäh. Zäh insofern, als Newcomer es schwer haben, wenn sie hierzulande Kunden gewinnen möchten. Und noch viel zäher ist es, wenn die neue Automarke auch noch im Premiumsegment wildert.

Mit 4,85 Metern Länge ist der EL6 kein ganz kleines Auto für die Mittelklasse.
(Foto: Patrick Broich)
Das bekommt auch die junge Marke Nio zu spüren - kaum mehr als 200 Exemplare wurden dieses Jahr in Deutschland zugelassen. Andererseits, etwas hausgemacht ist der maue Absatz schon. Warum nicht ein preisgünstigeres Basismodell anbieten mit einer überschaubaren Motorleistung von unter 300 PS? Nö, nicht mit Nio. Unter 490 PS geht nichts - auch nicht beim 4,85 Meter langen EL6.
Innenraum komfortabel und sachlich
Das Mittelklasse-SUV verfügt demnach über zwei Elektroaggregate und leistet 490 PS. Braucht man die? Natürlich nicht, aber sie machen definitiv Spaß. Doch bevor es auf die Straße geht, erst einmal den Nio-Innenraum inspizieren. Und da fällst du erst einmal in ziemlich anschmiegsame Sessel und blickst auf fancy aussehendes Rattanholzdekor.

Das Interieur ist clean, aber irgendwie auch seelenlos. Ein bisschen mehr Charme bitte, liebes Nio-Team!
(Foto: Patrick Broich)
Auch die Verarbeitung geht durchaus in Ordnung. Aber ein wenig fehlt dem Interieur die Seele, alles wirkt eine Spur zu synthetisch-technisch. Physische Tasten lassen sich an einer Hand abzählen. Sei es drum, hier geht es schließlich um Geschmack. Und über Geschmack lässt sich bekanntermaßen streiten.
Eindeutig nicht streiten lässt sich dagegen über bestimmte praktische Gegebenheiten der EL6-Innenarchitektur, an denen sich andere Hersteller mal ein Beispiel nehmen sollten. Das sind ganz banale Dinge, wie die einfach zugängliche Ladeschale für Smartphones. Schön, dass die auch noch richtig leistungsfähig ist, sodass sich das Endgerät wirklich vollladen lässt. Sucht man beides in vielen Autos vergebens.
Nio-Akku lässt sich auch tauschen statt laden
Laden ist übrigens ein gutes Stichwort - schließlich muss ja auch die Traktionsbatterie irgendwann einmal geladen werden. Oder doch nicht? Schon, aber nicht zwingend im Auto. ntv.de hat diesmal trotz erklecklicher Kilometerleistung mit dem praktischen Premium-Chinesen wenig geladen und stattdessen von den Batterietausch-Stationen Gebrauch gemacht.
Davon gibt es in Deutschland inzwischen immerhin 16 Stück laut der "Nio Power Map", deren Handling auf der Website allerdings verbesserungsbedürftig ist. Demnach ist es gar nicht so einfach herauszufinden, wo die Tauschanlagen eigentlich genau stehen. Gut, man kann auch "Nio Power Swap" in das Navi klimpern, dann geht es irgendwie schon.
Spannender ist dann, wie der Tausch selbst verläuft. Fahrzeug einfach auf die Markierung fahren, die auf dem Boden vor der Swap-Garage aufgemalt ist. Dann auf dem Fahrzeugscreen den Tausch anfordern und schon öffnet sich das Tor. Und was danach folgt, eignet sich für nicht weniger, als den Beifahrer zu beeindrucken. Der Fahrer wird nämlich aufgefordert, seine Hände vom Lenkrad und den Fuß von den Pedalen zu nehmen. Wie von Geisterhand gesteuert, bugsiert der Rechner den fahrbaren Untersatz in die Garage, wo im Anschluss unter Brummen, Klacken und Ruckeln der Batterietausch stattfindet. Und nach wenigen Minuten verfügt der Nio wieder über einen Akku mit 90 Prozent Füllstand. Ist das cool? Ja, schon ziemlich.
Löst "Power Swap" das Lade-Problem?
Ist der Akkutausch also die Lösung, um die Elektromobilität attraktiv zu machen? Auf keinen Fall, denn erstens dauert er etwas länger als fünf Minuten. Was ist also, wenn drei oder vier Fahrzeuge in der Schlange stehen? Und zweitens wäre da ja noch der Umweg zur Tauschstation - denn eine Schnellladesäule findet sich heutzutage an jeder Ecke im Gegensatz zur Batterietauschanlage.
Fair allerdings: Nio berechnet für den tatsächlich verbrauchten Strom bloß 39 Cent je Kilowattstunde, zudem hat der Kunde zwei Akkuswaps im Monat frei. Ab dem dritten Tausch wird eine Gebühr von zehn Euro pro Wechsel fällig - plus Strom, versteht sich.
Energie aus dem Akku zu ziehen macht Gaudi
Ach ja, geladen hat ntv.de den EL6 zur Abwechslung auch an diversen Gleichstromladern. Hier hat das SUV diesmal nicht ganz so rasant Strom gesaugt wie der ET5 Touring im letzten Test. Aber 216 Kilometer binnen 20 Minuten nachzuladen mit etwas über 100 kW Ladeleistung ist noch so gerade akzeptabel. Beim großen Akku (100 kWh) kann mit maximal 180 kW geladen werden, während die kleinere Batterie mit 75 kWh Kapazität lediglich 140 kW im Peak zulässt.
Spaßiger allerdings ist, die Energie aus dem Akku herauszuziehen. Das geht viel rasanter. Und zwar so rasant, dass es den Passagieren durch den Magen fährt (4,5 Sekunden von 0 auf 100 km/h). Wer die volle Leistung von knapp 500 Pferdchen haben möchte, muss diese erst im Menü freischalten. Entweder per Sportmodus oder individueller Einstellung. Es funktioniert also auch die Kombination volle Power und komfortable Fahrwerkseinstellung. Komfortabel kann der EL6 übrigens besser als sportlich. Es fehlt einfach ein bisschen an Feinschliff sowie Lenkpräzision. Und trotz 4x4 schafft es der 2,3-Tonner kaum, unter voller Last Antriebseinflüsse vom Lenkrad fernzuhalten. Egal, die Mundwinkel zeigen nach oben. Bei 200 km/h endet der Vortrieb allerdings schon.
Preise und Anschaffungsmöglichkeiten
Was wäre noch wissenswert? Vielleicht, dass der EL6 ein geräumiger Zeitgenosse ist mit viel Platz auch hinten. Sein Radstand von properen 2,92 Metern kommt nämlich definitiv der Beinfreiheit zugute. Und rund 600 Liter Gepäckraumvolumen bei aufgestellter Lehne machen es einer vierköpfigen Reisetruppe möglich, so einiges an Proviant mitzunehmen. Bei umgeklappten Lehnen passen dann immerhin noch 1430 Liter in das Abteil.

Das Kofferraumvolumen geht mit etwas mehr als 1400 Litern in Ordnung. Überragend ist es aber nicht. Der EL6 ist eben ein Lifestyler.
(Foto: Patrick Broich)
Wer sich mit dem Gedanken trägt, einen Nio EL6 anzuschaffen, hat diverse Möglichkeiten. Ob man kauft oder least - in den meisten Fällen bleibt die Batterie Eigentum des Herstellers, um im Kreislauf des Akkutauschsystems zu laufen. Dann werden Batteriemieten von 169 bis 289 Euro monatlich fällig (ohne Akku startet der Preis bei 53.500 Euro).
Klar muss aber sein: Wer das komplette Auto zu mindestens 65.500 Euro (inklusive 75-kWh-Akku) kauft, darf am Wechselsystem nicht teilnehmen. Mit 100 Kilowattstunden Speicherkapazität beläuft sich der Grundpreis auf 74.500 Euro. Hier kommen Langstreckennutzer auf ihre Kosten mit bis zu 529 Kilometern Reichweite bei einem Verbrauch von 20,4 kWh je 100 Kilometer. Leider verlockt der Antrieb mit seinen bärigen 700 Newtonmetern Drehmoment dazu, den Verbrauch in Richtung 30 kWh zu treiben. Dem würde ein deutlich leistungsschwächeres Modell entgegenwirken.
Fazit
Der Nio EL6 ist mehr als ein Achtungserfolg und unterm Strich ein solides Produkt. Auch wenn hier und da noch etwas Feinschliff angebracht ist, muss sich der chinesische Mittelklässler kaum vor dem Wettbewerb verstecken. Zumal hiesige Premium-Wettbewerber wie der Audi Q6 e-Tron oder Porsche Macan ganz schnell sechsstellige Beträge aufrufen.
Ob man potenzielle 40.000 Euro Mehrpreis für gerechtfertigt hält, um der Perfektion noch ein Stück näherzukommen, mag jeder für sich selbst entscheiden.
Datenblatt Nio EL6 Long Range (100 kWh)
Abmessungen (Länge/Breite/Höhe) | 4,85 / 2,10 m (Spiegel eingeklappt) |
Radstand | 2,92 m |
Leergewicht (DIN) | 2323 kg |
Sitzplätze | 5 |
Ladevolumen | 579 bis 1430 Liter |
Motorart | zwei Elektromaschinen |
Getriebe | eine feststehende Übersetzung |
Leistung, E-Maschine hinten | 360 PS (490 kW) |
Antrieb | Allradantrieb |
max. Drehmoment | 700 Nm |
Beschleunigung 0-100 km/h | 4,5 Sekunden |
Höchstgeschwindigkeit | 200 km/h |
Akkukapazität | 100 kWh |
Maximale Ladeleistung (Gleichstrom) | 180 kW |
Ladeleistung (Wechselstrom) | 11 kW |
Verbrauch (kombiniert) | 20,4 bis 21,2 kWh/100 km (WLTP) |
kombinierte WLTP-Reichweite | 510 bis 529 Kilometer |
CO₂-Emission kombiniert | 0 g/km |
Grundpreis | Ab 74.500 Euro |
Quelle: ntv.de