Stoßgebete für den ESCDas sind die Tops und Flops in Rotterdam

Das erste Halbfinale des Eurovision Song Contests in Rotterdam steht kurz bevor. Höchste Zeit also für den diesjährigen Favoritencheck. Mehrere Länder haben realistische Chancen, den Wettbewerb in diesem Jahr für sich zu entscheiden - und einige ganz sicher nicht.
Von den äußeren Bedingungen her steht der diesjährige Eurovision Song Contest (ESC) in Rotterdam ganz sicher unter keinem guten Stern. Die Corona-Pandemie macht aus dem Volksfest, das der Gesangswettbewerb normalerweise ist, eine Olympiade in Abstandhalten, Selbstquarantäne und Dauertesten.
Vielleicht gibt es deshalb in diesem Jahr gleich zwei Beiträge, die sogar Beistand von ganz oben erbitten. So tritt Ana Soklič aus Slowenien mit einer wuchtigen Ballade namens "Amen" an. Auch ein "Hallelujah" im Refrain und ein Gospelchor zum Höhepunkt des Songs dürfen nicht fehlen. Fragt sich nur, ob auch die ESC-Fans das Stoßgebet erhören und den Beitrag zum Sieger krönen werden. Unser Tipp: eher nein.
Das gilt auch für den Beitrag aus Österreich, der - ups - ebenfalls den Titel "Amen" trägt. In diesem Fall ist es mit Vincent Bueno allerdings ein Mann, der uns mit seinem in einen ESC-Song gegossenen Glaubensbekenntnis beglückt. Und das kommt auch nicht ganz so getragen daher wie die Konkurrenz aus Slowenien.
Dürften Österreich und Slowenien eher geringe Siegchancen in Rotterdam haben, hat der Norweger TIX keine. Und zwar absolut keine. Das zumindest ist beim Blick auf seine Performance nur schwer zu hoffen, in der er seinen "Fallen Angel" von der Kette lässt. Aber nun gut: That's ESC.
Noch einen Flop in Rotterdam gefällig? Da müssen wir gar nicht weit reisen, sondern nur zu unseren dänischen Nachbarn. Was sie sich bei der Nominierung von Pat und Patachon alias Fyr Og Flamme gedacht haben, wird wohl für immer ihr Geheimnis bleiben. Beim demonstrativen Zahnpasta-Lächeln von Gitarrist Laurits Emanuel wird Dieter Bohlen geradezu neidisch. Und bei der musikalischen Zeitreise in die 80er womöglich auch.
Womit es an der Zeit ist, mal einen Blick auf die echten Favoriten in diesem Jahr zu werfen. Das heißt, nein, Deutschland ist leider wieder einmal nicht dabei. Die Buchmacher sehen Stimmungskanone Jendrik mit "I Don't Feel Hate" eher im Tabellenkeller als an der Spitze.
Jetzt aber: Wirklich ganz weit vorn wird in diesem Jahr Italien gehandelt. Kein Wunder, das schmissige "Zitti E Buoni" von der Gruppe mit dem ganz und gar unitalienischen Namen Måneskin geht schließlich direkt ins Ohr. Außerdem wäre es 15 Jahre nach dem ESC-Sieg von Lordi doch endlich mal wieder an der Zeit für einen Rocksong, oder etwa nicht?
Neben Italien hat in diesem Jahr tatsächlich noch ein zweites Land der sogenannten "Big Five", die automatisch für das Finale gesetzt sind, allerbeste Siegchancen. Und das mit einem Song, der kaum unterschiedlicher sein könnte: Frankreich. Barbara Pravis Chanson "Voilà" ergreift den Hörer unmittelbar. Sollte es ihr gelingen, die Stimmung auch in der Ahoy Arena zu transportieren, ist nicht unwahrscheinlich, dass der nächste ESC in Paris stattfindet.
Destiny aus Malta dürfte da jedoch etwas dagegen haben. Ihr Auftritt und ihr Song "Je Me Casse" vereinen so ziemlich alles, was einen ESC-Favoriten im Jahr 2021 ausmacht. Sechs Jahre nach ihrem Sieg beim "Junior Contest" könnte sie nun auch den ganz großen Triumph einfahren - und damit Geschichte bei dem Gesangswettbewerb schreiben. Erst bei den Kleinen und dann bei den Großen zu gewinnen, ist bislang noch niemandem geglückt.
Der Song, mit dem die Niederlande den ESC nach Rotterdam holten, hieß "Arcade" und stammte von Duncan Laurence. Das Lied, mit dem die Schweiz in diesem Jahr nach den Sternen greift, ist dem bis dato letzten Gewinner nicht ganz unähnlich. "Tout l'Univers" von Gjon's Tears ist ein großartiger Alternative-Popsong, den sicherlich auch Radiohead ganz gern geschrieben hätten.
Der Nahost-Konflikt eskaliert mal wieder. In Rotterdam jedoch groovt sich Israels Vertreterin Eden Alene lässig durch ihren Song "Set Me Free". Politik sollte beim ESC bekanntlich vor der Tür bleiben - und so ist sicher nicht von der Hand zu weisen, dass es auch die israelische Partyhymne in Rotterdam ziemlich weit bringen könnte.
Oder gelingt womöglich Portugal der Coup, vier Jahre nach dem Sieg von Salvador Sobral, die Gesangskrone erneut auf die iberische Halbinsel zu holen? The Black Mamba mit "Love Is On My Side" setzen jedenfalls auf ganz ähnliche Stilmittel wie der Gewinner des Jahres 2017. Ein handgemachter, unprätentiöser und schnörkelloser Song mit reduzierter Performance - lässt das die Herzen der ESC-Zuschauer am Ende höher schlagen?
Am Samstag wissen wir es. Dann geht in der Ahoy Arena das große Finale des diesjährigen Song Contests über die Bühne. Doch zunächst müssen sich 34 Länder durch die beiden Halbfinale am Dienstag und Donnerstag kämpfen. In diesem Sinne: Lasset die Spiele beginnen.