Berlin feiert im Verborgenen Ein Karneval, den kaum jemand kennt


Die Gruppe "Champs" singt auf der Faschingsfeier der "Fidelen Rixdorfer".
(Foto: privat)
Während Köln oder Mainz kopfsteht, wird Karneval in Berlin nahezu ignoriert. Dabei verfügt die Hauptstadt über eine verwurzelte Vereinskultur. Ihre Mitglieder feiern nicht nur, sie kämpfen auch mit inneren Problemen und äußeren Widerständen. Zu Besuch in einer Anti-Hochburg.
Selbst im bunten Berlin wirken die Kostümierten wie Fremdkörper, ein Zauberer ist unter ihnen und eine Frau im Federkleid. Sie schreiten den Treppenaufgang des U-Bahnhofs Lipschitzallee hinauf, raus ins tiefste Neukölln, Ortsteil Gropiusstadt. Von Plattenbauten umzingelt steht dort ein Backsteingebäude, lokale Anlaufstelle für Ausstellungen, Konzerte, Seniorentreffs. Manche der Leuchtbuchstaben, die das Gemeinschaftshaus ausweisen, leuchten nicht mehr. Die Gruppe eilt hinein, weil der Regen die Schminke sonst verwischt und der Höhepunkt der Session bevorsteht. Es ist kurz vor 18 Uhr am Karnevalssamstag, der für die allermeisten Bewohner dieser Stadt einfach nur ein Samstag ist.
Was in Teilen der Bundesrepublik zur Staatsräson gehört, hat in Berlin den beschwerlichen Stand einer Subkultur unter vielen. Kollektive Rauscherfahrungen sind hier auch außerhalb der "fünften Jahreszeit" stets verfügbar, und mit schunkelwütigen Sitzungen, Elferrat und Dreigestirn kann kaum jemand etwas anfangen. Und doch existieren sie, die Jecken der Hauptstadt. Im Verborgenen feiern sie Jahr für Jahr Karneval, Fasching, Fastnacht - Wortklaubereien sind nebensächlich. Schließlich halten sie eine Tradition am Leben. Eine Tradition, um die sich sonst niemand schert.
17 Karnevalsgesellschaften zählt Berlin, Tendenz sinkend. Der demographische Wandel macht auch vor Narren nicht halt, bei zunehmender Alterung fehlt es an begeisterungsfähigem Nachwuchs. Dann kam die Corona-Pandemie und damit der Wegfall routinemäßiger Kneipentreffs - für manche Vereine der Todesstoß. Die "Fidelen Rixdorfer", der älteste aktive Karnevalsverein der Stadt, halten sich wacker. 1950 in Neukölln gegründet, folgte 1972 die Öffnung für Frauen und bald darauf eine Blütezeit mit über hundert Mitgliedern. Heute sind es noch 45, nicht alle lassen sich auch blicken.
"Früher war es schöner, es gab mehr Veranstaltungen. Leider ist auch der Stammtisch eingeschlafen", sagt Axel Steinfels, Schnauzbart, Ohrring links, von Beruf Kraftfahrer. Ein Ur-Berliner, das hört man, wenn er spricht. In den Karneval sei der 61-Jährige "so reingerutscht", das war in den 90ern. Seine Tochter trat der vereinsnahen Tanzsportgruppe bei, er fand Gefallen an der Gemeinschaft. Seit 15 Jahren führt Steinfels die "Fidelen Rixdorfer" als Präsident an, die am Karnevalssamstag die große Faschingsparty im Gropiusstädter Gemeinschaftshaus veranstalten.
Stimmung nach Plan
Um 18.11 Uhr schallt dort "Jetzt geht's los" der Kölner Gute-Laune-Gruppe Höhner vom Band. Der scheinwerferbehangene Saal ist mit Lametta und Luftballons aufgepäppelt, Süßigkeiten auf den aneinandergereihten Holztischen verteilt. Einlauf der Mandatsträger der "Fidelen Rixdorfer", dahinter die Tanzgruppen befreundeter Gesellschaften aus Lichtenberg und Reinickendorf. Jeder tanzt mal bei jedem, das füllt den Kalender. Die letzten im Publikum finden sich ein, man kennt sich, die Plätze sind durchnummeriert. 250 Karten hatte man im Kontingent, rund 120 verkauft, vor allem an Vereinsmitglieder und deren Anhang. "Wegen der Krise fehlt den Leuten das Geld, deswegen kommen auch weniger", sagt Steinfels im Pharaonenoutfit. "Aber was am Ende zählt, ist die Stimmung."
Damit die Stimmung auch aufkommt, ist der Abend streng getaktet. Viel Tanz, etwas Gesang, Kostümprämierung und sogar Büttenreden, auch wenn das im Berliner Karneval nicht unbedingt üblich sei, wie man mehrfach versichert. Andreas Penski wagt es trotzdem, mit einer Imitation von Martin Luther. Penski, auch im realen Leben Pfarrer, klagt an. Es geht ein bisschen gegen Putin, gegen Politiker im Allgemeinen, gegen Silvesterkrawalle und Gendersprache. In Reimform erklärt er, entsprechende Mahlzeiten weiterhin "Mohrenköpfe" und "Zigeunerschnitzel" nennen zu wollen. Vereinzelte Lacher.
Es ist das einzige Mal, dass es auf der Bühne politisch zugeht. Abseits von ihr ist der Frust über die Politik allgegenwärtig. Bis 2017 organisierten die Berliner Vereine einen hunderttausendfach besuchten Faschingsumzug über den Kurfürstendamm. Seither scheitert es an untragbaren, weil nicht bezuschussten Reinigungskosten und einer aufgedrückten Lärmobergrenze von 75 Dezibel. Das entspricht in etwa dem Lautstärkepegel eines handelsüblichen Staubsaugers.
"Nur die AfD kam auf uns zu"
"Der Senat will keinen Karneval in Berlin", sagt Klaus Heimann, Rheinländer im hauptstätischen Exil und Präsident des Dachverbands "Festkomitee Berliner Karneval". Unermüdlich klopft er bei den Fraktionen im Abgeordnetenhaus an, bittet um Fördergelder oder wenigstens um eine Antwort, in der Regel kommt Schweigen zurück. "Nur die AfD kam auf uns zu und hat gefragt, wie sie uns unterstützen kann. Das haben wir dankend abgelehnt", sagt Heimann.
Heimann muss laut sprechen, im Gemeinschaftshaus feuert der DJ aus allen Rohren, ein Potpourri aus kölschen und hochdeutschen Gassenhauern. Das Programm sieht 40 Minuten Pause vor, es darf frei getanzt werden. Heimann trägt einen Schottenrock mit passender Mütze im Karomuster, dazu weiße Kilt-Strümpfe. In der Hand hält er ein Pils Berliner Brauart. Er will vor Gericht ziehen, plant eine Klage auf Gleichberechtigung. "Loveparade und Karneval der Kulturen werden gefördert, warum sollte es bei uns anders sein?"
Einzig Franziska Giffey hat einen vergleichsweise guten Stand. Damals, als Neuköllner Bezirksbürgermeisterin, war sie der Ehrengast auf der Faschingsparty, hat sich unter die Narren im Gemeinschaftshaus gemischt. Eine herzliche Frau, erinnert sich jemand, sie habe sich sehr über den Orden gefreut, der ihr verliehen wurde. Giffeys Amtsnachfolger Martin Hikel hat für heute abgesagt. Im Saal schlängelt sich eine Polonaise durch die Reihen. Wer noch sitzt, wird mit Nachdruck dazu ermuntert, sich einzureihen.
Sparsam feiern

Landespräsident und Schwiegersohn Heimann übergibt Frau Schwan die Urkunde für 50 Jahre ehrenamtlichen Einsatz.
(Foto: privat)
Präsident Steinfels bleibt sitzen, seine Anwesenheit erfüllt an diesem Abend eine repräsentative Funktion, in Form von Händeschütteln und zurücklehnen. Er hat die Vorarbeit erledigt, das Gemeinschaftshaus für fünf Jahre im Voraus angemietet, es sei der "einzig bezahlbare Raum in Berlin". Das Catering läuft über die Firma eines Bekannten. Früher gab es private Sponsoren, erzählt Steinfels, aber die sind alle tot.
Dass sich die "Fidelen Rixdorfer" über Wasser halten, ist wohl auch Marion Schwan zu verdanken. Die Bankkaufrau im Ruhestand verwaltet, plant, organisiert. Auch bei umgreifender Heiterkeit behält sie eine ernste Miene. Während geschunkelt wird, eilt die kleine Frau mit allerlei Zetteln umher, sorgt hinter der Bühne dafür, dass die Outfits der Tänzerinnen und Tänzer sitzen. Sie ist Vorsitzende der Tanzsportgruppe, die jeden Donnerstag auf diese Zeit im Jahr hintrainiert. Gleich zwei Auftritte sind es heute. Sie werden frenetisch umjubelt.
Auch Schwan muss noch auf die Bühne. Für 50 Jahre Engagement wird der 61-Jährigen der "Verdienstorden in Gold mit Brillanten" des Bundesverbands verliehen. Bevollmächtigter ist Landesverbandschef Heimann, der ist gleichzeitig auch ihr Schwiegersohn. Knappe Dankesrede, sie habe im Verein noch viel vor, Beifall. Fragt man Frau Schwan, was Karneval für sie bedeutet, antwortet sie: "Das ist mein Leben."
Um Punkt 10 Uhr ist das Programm beendet. "Karneval in Berlin wird es mit den 'Fidelen Rixdorfern' noch sehr lange geben!", wird entschlossen ins Mikrofon gerufen. Ein dreifaches "Berlin Hejo", dann gehen die Älteren, es sind die meisten. Einige Jüngere feiern noch. Bis spätestens ein Uhr muss durchgefegt sein.
Grabrede auf den Karneval
Ortswechsel. Aschermittwoch, 18 Uhr, Dunkelheit legt sich über die Kleingartenkolonie Britzer Wiesen, südliches Neukölln. Versteckt zwischen Datschen und Deutschlandfahnen befindet sich ein Gasthaus. Eine Trauergesellschaft rückt an, Männer im schwarzen Anzug, die Frauen tragen Schleier. Sie wollen zur Beerdigung des Karnevals. Dafür haben sich die "Fidelen Rixdorfer" mit zwei weiteren Berliner Vereinen verbündet, so kommen immerhin ein paar Leute zusammen, es sind circa 50. Herr Steinfels sitzt schon am Platz, Frau Schwan huscht mit einer Liste durch den Raum und versucht aufzuschlüsseln, wer Matjes und wer Forelle bestellt hat.
In Köln verbrennen sie den Nubbel, in Berlin wird der Karneval beerdigt. Den Ursprung des Brauchs kennt keiner so genau. Hauptsache, es gibt ihn. Totenköpfe, Tagbrenner und Fastnachtsorden schmücken den Schrein, um den sich die Männer karikativ schluchzend versammeln. Kranzablage, ein Grabkreuz wird in die Höhe gereckt, die Inschrift führt Geburts- und Todesdatum auf: 11.11. bis Aschermittwoch. Die Trauerrede übernimmt Pfarrer Penski. Abermals reimend kondoliert er dem Karneval und hält eine Andacht auf jeden einzelnen Berliner Verein. Dann geht es über zum gemeinsamen Sakralgesang, "Der Liebe Gott weiß, dass ich kein Engel bin", schon wieder die Höhner. Das zum "Spaß unser" umgedichtete "Vater unser" wird heruntergebetet. Die Kellner bringen den Fisch.
Ein Paar Prinzen für Berlin
Natürlich hat Berlin auch ein Prinzenpaar, in dieser Session gestellt vom Verein "Prinzengarde". Für Detlef I. und Uli. I. geht eine ereignisreiche Regentschaft zu Ende, erzählen die beiden, die nun anstelle ihrer Narrenkappe vorschriftsgemäß schwarz tragen. Ein Auftritt auf der Agrarmesse Grüne Woche, royaler Empfang beim Kölner Dreigestirn, zuletzt ein Terminmarathon durch die Sitzungen Berlins und Brandenburgs. Erstmals wurde das Prinzenpaar nicht geschlechterparitätisch besetzt, aus der Not heraus. Die eigenen Frauen wollten nicht und sonst auch keine, also haben sie es einfach selbst gemacht, sagen die langjährigen Vereinskollegen. Dass sie mitunter für ein echtes Paar gehalten wurden, sei halb so wild gewesen.
Landespräsident Heimann rührt bei den Anwesenden schonmal die Werbetrommel für die nächste Session: "Vielleicht finden sich dann ja zwei Prinzessinnen". Irgendjemand hat sich bislang immer gefunden. Über die Tische hinweg wird sich mit Verdauungsschnäpsen zugeprostet, Stühle werden zusammengerückt, Kinder tollen herum, eine Gruppe Seniorinnen klönt auf Berlinerisch. Die freudig Trauernden haben den Berliner Karneval zu Grabe getragen, im November erwecken sie ihn wieder zum Leben, so viel ist sicher.
Quelle: ntv.de