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Doppelmord in den Abruzzen Unter dem "Dente del Lupo" herrscht Schweigen

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In den 1990er-Jahren erschütterte ein Doppelmord die Abruzzen-Region (im Bild: Blick auf den Gran Sasso).

In den 1990er-Jahren erschütterte ein Doppelmord die Abruzzen-Region (im Bild: Blick auf den Gran Sasso).

(Foto: IMAGO/Pond5 Images)

Ein verrotteter Campingplatz ruft Erinnerungen an ein grausames Verbrechen vor 30 Jahren wach und eine sprachlose junge Frau kehrt in den kleinen Abruzzen-Ort unter dem "Wolfszahn" zurück: In ihrem preisgekrönten Roman erzählt Donatella Di Pietrantonio von der Zerbrechlichkeit der Menschen.

Voller Euphorie bricht Amanda in ihr neues Leben als Studentin auf - raus aus dem Bergort in den Abruzzen, rein in den Großstadttrubel von Mailand. Nicht einmal zwei Jahre später kehrt sie, mitten im Corona-Lockdown, zu ihrer Mutter zurück. Sie ist blass und das Strahlen auf ihrem Gesicht verschwunden. Ihr Zimmer verlässt sie kaum, sie mag nicht essen, das Buch ist immer auf derselben Seite umgedreht. "Mailand hat mir eine erloschene Tochter zurückgegeben", stellt ihre Mutter Lucia, Ich-Erzählerin in dem Roman "Die zerbrechliche Zeit" von Donatella di Pietrantonio, rat- und hilflos fest.

Nicht nur die heimgekommene Tochter beschäftigt Lucia. Ihr Vater will ihr ein Waldstück am "Dente del Lupo", dem "Wolfszahn", überschreiben und damit auch eine große Last: Auf dem Gelände unterhalb des Berges rottet ein Campingplatz vor sich hin, der an ein schreckliches Verbrechen erinnert. An einem Abend vor 30 Jahren versammelten sich dort Schäfer, Jäger, Carabinieri und Dorfbewohner, mit Taschenlampen und Gewehren suchten sie im Wald nach drei vermissten jungen Frauen und fanden schließlich zwei schlimm zugerichtete Leichen. Lucias Freundin Doralice überlebte die Bluttat und irrte eine ganze Nacht lang durch die Berge.

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Seitdem plagen Lucia Schuldgefühle. An dem Tag des Doppelmordes hatte sie sich mit Doralice verabredet, war dann aber mit anderen jungen Leuten zu einem fröhlichen Nachmittag am Strand aufgebrochen. Für das, was im Wald und zwischen ihnen geschehen war, fanden Doralice und Lucia keine Worte, ihre Freundschaft zerbrach und nach dem Gerichtsprozess verließ Doralice Italien. "Inzwischen spricht niemand mehr von ihr. Alle haben sie Doralice und ihre Geschichte vergessen."

Aber es geht um mehr als Vergessen, Di Pietrantonio erzählt von Verdrängung und Sprachlosigkeit. Niemand stellte sich dem Schmerz, den das Verbrechen in der Dorfgemeinschaft auslöste. Die Autorin, die selbst aus einem kleinen Dorf in den Abruzzen stammt, orientiert sich in ihrem Roman an einem realen Doppelmord, der die Region in den 1990er-Jahren erschütterte. Dabei ist sie nicht an irgendeiner Art von Who-done-it-Thrill interessiert. Sie fokussiert sich auf das, was das Verbrechen in den Menschen anrichtet, als in einen Ort vermeintlicher Idylle und Geborgenheit plötzlich das Böse einbricht und die Fragilität menschlicher Beziehungen sichtbar wird.

"Vertrauen in die Welt geraubt"

Auch Amanda ist eine Versehrte, seit sie in Mailand überfallen wurde. Lucia, die ihre Tochter schon als Baby nicht zu deuten wusste und sich davor fürchtete, mit ihr allein zu sein, stieg damals nicht in den Zug, um ihr beizustehen. Sie war sich sicher, dass eigentlich "nichts Schlimmes passiert" war. "Die Verletzung war oberflächlich, sie würde bald verheilen. Ich sah nicht den langfristigen Schaden, dass sie ihr, zusammen mit der Handtasche, das Vertrauen in die Welt geraubt hatten."

Ruhig und behutsam spannt Di Pietrantonio den Bogen der Geschichte zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf und erzählt von den emotionalen Verflechtungen zwischen Eltern und Kindern verschiedener Generationen. Ihre Hauptfiguren sind jede auf ihre Weise mit dem Ort ihrer Geburt verbunden: Während der schroffe Vater tief in der Bergregion verwurzelt ist, wäre Lucia gerne mit ihrem Mann, der sich für seine Karriere entschieden hat, nach Turin gegangen. Aber sie kann sich von dem Abruzzen-Dorf, in dem sie eine Physiotherapie-Praxis betreibt, nicht losreißen. Die eigensinnige Amanda schließlich hat den Versuch gewagt, aus der Provinz auszubrechen, und ist gescheitert.

Bedrückend, aber mitreißend

Das Buch ist wirklich bedrückend, aus der Hand legen möchte man es aber dennoch nicht. Der kraftvolle Erzählton, vortrefflich von Maja Pflug ins Deutsche übertragen, reißt die Leser und Leserinnen mit und trägt sie durch die etwas mehr als 200 Seiten voller Finsternis, vererbter Traumata, Ängste und Wünsche.

In Italien gehört Di Pietrantonio, die als Kinderzahnärztin arbeitet und erst mit fast 50 Jahren ihr literarisches Debüt vorlegte, zu den populärsten Schriftstellerinnen des Landes. Gewidmet hat sie ihren Roman, für den sie 2024 mit dem wichtigsten Literaturpreis "Premio Strega" ausgezeichnet wurde, "allen Frauen, die überlebt haben". Denn auch das ist "Die zerbrechliche Zeit": Ein Roman, der dem Schmerz der Frauen in einer patriarchal geprägten Welt Ausdruck verleiht. Und der davon erzählt, dass das Menschsein an sich etwas sehr Zerbrechliches ist.

Am Ende muss Lucia entscheiden, was mit dem in Trümmern liegenden Campingplatz passieren soll, für den sich ein Immobilienhai interessiert. Und Di Pietrantonio zeigt, dass es in der Gegenwart gelingen kann, dem Schweigen der Vergangenheit etwas entgegenzusetzen.

Quelle: ntv.de

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