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Zwischen Barock und Mafia Buchmesseland Italien hat viel zu erzählen

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Blick vom Gianicolo, wo die "Villa Benedetta" stand, über Rom und den Petersdom.

Blick vom Gianicolo, wo die "Villa Benedetta" stand, über Rom und den Petersdom.

(Foto: imago/MITO)

Italien ist in diesem Jahr Gastland auf der Buchmesse in Frankfurt am Main. Traditionell erscheinen dann besonders viele Titel aus dem Gastland auf Deutsch. Die fünf hier ausgewählten Romane sind alle auf ihre Weise besonders, sie lassen das prunktrunkene Barock-Rom der Päpste lebendig werden, ein 15-jähriger Mörder greift zu Stift und Papier und ein Mafia-Jäger bekommt ein literarisches Denkmal.

Die vergessene Barockbaumeisterin

Der Roman "Die Villa der Architektin" von Melania G. Mazzucco führt tief hinein in das turbulente Rom des 17. Jahrhunderts und verleiht einer Frau eine Stimme, die lange in Vergessenheit geraten war: Plautilla Bricci, die erste Baumeisterin des Barocks. Sie konzipierte für Abt Benedetti auf dem Gianicolo-Hügel die "Villa Benedetta". Der Entwurf war verblüffend: Das Gebäude glich einem auf dem Felsen gestrandeten Segelschiff, dessen Bug sich furchtlos auf den Petersdom und den Palast des Papstes richtete.

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Mazzucco war 2002 bei Recherchen zufällig auf die Berufsbezeichnung "architettrice" gestoßen, eine weibliche Form von Architekt, die es im Italienischen gar nicht gibt. Plautilla hatte sie für sich erfunden. Über Jahre grub sich Mazzucco durch Materialien in Archiven und Bibliotheken und legte immer mehr Details zum Leben und Wirken der spannenden Künstlerin frei, die 1616 als Tochter eines Malers und Komödiendichters in ärmlichen Verhältnissen geboren wurde. In Rom boomte zu der Zeit durch die Macht von Päpsten und Kardinälen der barocke Prachtbau, in der Stadt regierten Intrigen und Korruption. Das Sagen hatten Männer, Frauen blieben unsichtbar, starben bei Geburten, auch Kinder überlebten oft nicht lange.

Plautilla verfolgte gegen alle Widerstände ihren eigenen Weg: Mit 13 Jahren malte sie ihr erstes Altarbild, später wurde sie Ehrenmitglied der Accademia di San Luca und führte ihre eigene Werkstatt. Mazzuccos Roman (Übersetzung: Karin Fleischanderl) ist ein schillerndes, farbenprächtiges und üppiges Kunstwerk geworden: Geschickt verwebt sie das Leben der Künstlerin, eingebettet in ein großes Familiengeflecht, mit dem Porträt eines gleichzeitig prunktrunkenen und von Armut gezeichneten Roms. Die von Plautilla entworfene Villa gibt es inzwischen übrigens nicht mehr, sie wurde 1849 während der französischen Belagerung von Kanonen zerstört. Aber irgendwo in der Erde auf dem Gianicolo liegt noch immer ein Grundstein mit einer Bleiplatte, auf der Plautilla Briccis Name steht - mit dem Zusatz "architettrice".

Die Vermisste, die nicht gefunden werden will

Für ihr Debüt als Schriftstellerin wurde Maddalena Vaglio Tanet in Italien gefeiert und für den renommierten Premio Strega nominiert. Sie erzählt von einer Lehrerin, die eines Morgens nicht in die Schule geht, sondern "In den Wald", so der Titel des Romans (Übersetzung: Annette Kopetzki). Die Geschichte ist von einer wahren Begebenheit inspiriert, verrät die Autorin im Nachwort. Eine Verwandte verschwand in den 1970er-Jahren nach dem Suizid ihrer Lieblingsschülerin und tauchte erst Tage später durchnässt, verdreckt und fast verhungert wieder auf. Was während dieser Zeit passierte, verriet sie nie. Rund um diesen realen Kern entwickelt Tanet nun ihren Roman und füllt die Lücken mit Fiktion und vergegenwärtigt sensibel Schmerz, Scham und Schuldgefühle.

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Immer tiefer lässt sie Silvia, die Lehrerin, in dem Wald verschwinden, bis die schließlich eine verfallene Hütte entdeckt: "Die Lehrerin ging schwankend, sie war benommen, in den Augen geschahen ihr Dinge, die nichts mit diesem Ort zu tun hatten. Kaum war sie über die Schwelle getreten, ließ sie sich auf den Boden fallen und rührte sich nicht mehr."

Verdrängtes bricht sich Bahn, Silvia erinnert sich an ihre Zeit als Internatsschülerin bei den Nonnen, an Vorfälle aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges und wird von Visionen der verstorbenen Schülerin heimgesucht. In und um den piemontesischen Ort Biella suchen Familie und Nachbarn derweil fieberhaft nach der Vermissten. Ein Junge, der durch den Wald streift, entdeckt sie schließlich, doch Silvia möchte gar nicht gefunden werden - und die Rollen von Schüler und Lehrerin kehren sich um.

"… weil ich hab einen umgebracht"

Ein weiterer bemerkenswerter Debütroman liegt seit dem Sommer auf Deutsch vor: "Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer" von Francesca Maria Benvenuto. Christine Ammann hat dem Roman auch in der Übersetzung einen ganz besonderen Sound verpasst, in den man sich ein wenig einlesen muss, dann aber ist der Sprachfluss sehr packend: Der 15-jährige Zeno ist auf der Gefängnisinsel Nisida inhaftiert und hat seiner Italienischlehrerin versprochen, aufzuschreiben, was er denkt. Im Gegenzug will sich die Professoressa dafür einsetzen, dass er Weihnachten bei seiner Mutter verbringen darf.

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Zeno schreibt nun also frei von der Leber weg, grammatisch nicht immer korrekt. "Ich sitz im Jugendknast von Nisida, weil ich hab einen umgebracht - abgeknallt, genauer gesagt." Aufgewachsen in Forcella, einem von der Camorra kontrollierten Viertel in Neapel, ist Zeno schon als Kind in kriminelle Machenschaften hineingerutscht und vertickt Drogen. Sein Vater sitzt im Gefängnis, seine Mutter arbeitet als Prostituierte. Aber anstatt sich mit seiner geliebten Mamma den Basso - einen winzigen, dunklen Raum - zu teilen, starrt er nun auf das Meer, das "wirklich zu nix zu gebrauchen" ist. "Wir dürfen nichmal drin baden, in dem bekackten Meer, weil ihr Angst habt, dass wir abhauen. (…) Ich schwör, ich kann nichmal schwimmen. (…) Ich geh nicht weiter rein, wie wo ich stehn kann. Und nur mit Luftmatratze, Schwimmärmchen und so." Eines kann Zeno dem Knast dann doch abgewinnen: "Es gibt hier genug Fenster für alle."

Benvenuto, die selbst in Neapel geboren wurde und inzwischen als Strafverteidigerin in Paris arbeitet, hat einen sehr intimen Roman verfasst. Sie lässt den 15-Jährigen bei der Beschreibung seines Lebens in Forcella und auf Nisida zwischen einer erschreckend beiläufigen Brutalität und einer fast anrührenden Naivität schwanken - und klagt so auf eindringliche Weise die ganze Grausamkeit der Welt der Organisierten Kriminalität an.

Literarisches Denkmal für einen Mafia-Jäger

Auch Roberto Saviano hat immer wieder von Kindern und Jugendlichen in Neapel erzählt, die - noch minderjährig - in die Fänge der Camorra geraten und zu Straftätern werden. In seinem aktuellen Roman geht es wieder um das Organisierte Verbrechen in Italien, dieses Mal aber aus einem anderen Blickwinkel: In "Falcone" verneigt er sich literarisch vor dem Mafia-Jäger und Richter Giovanni Falcone, der am 23. Mai 1992 nahe Palermo bei einem Bombenattentat getötet wurde.

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Entlang der Biografie Falcones erzählt Saviano von Menschen, die ihr Leben dem Kampf gegen die Mafia widmen, obwohl sie wissen, dass sie jeden Tag ermordet werden könnten. "Falcone" (auch hier hat wieder Annette Kopetzki ihre Qualität als Übersetzerin bewiesen) ist nicht nur eine fesselnde Lektüre, die den Juristen auch als Ehemann, Bruder und Freund plastisch werden lässt. Der Roman wirft zudem Schlaglichter auf die Bedingungen, unter denen Ermittler in Italien arbeiten: wie sie den Spuren der Mafia folgen, Erfolge feiern (Stichwort Maxi-Prozesse in den 1980er-Jahren) und Rückschläge einstecken müssen; wie sie durch personelle Intrigen ausgebremst werden und Verbindungen bis in die höchsten Ämter der Politik erahnen. Trotz aller Frustration gab Falcone seinen Traum nie auf: eine Welt ohne Mafia.

Saviano hat sich ebenfalls dem Anti-Mafia-Kampf verschrieben, seit dem Erscheinen seines Camorra-Enthüllungsbuches "Gomorrha" 2006 bekommt er Polizeischutz. Und er ist ein scharfer Kritiker der italienischen Regierung unter der Postfaschistin Giorgia Meloni. Im vergangenen Jahr war eine Sendung mit ihm aus dem TV-Programm der staatlichen Rai gedrängt worden. Dass er nun nicht der offiziellen Delegation für die Buchmesse angehörte, hatte im Vorfeld für großen Wirbel gesorgt. 40 Schriftstellerinnen und Schriftsteller verfassten daraufhin einen offenen Protest-Brief, einige zogen sich aus der Delegation zurück. Saviano selbst reiste schließlich auf Einladung seines deutschen Verlages Hanser nach Frankfurt.

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Bei einer PEN-Veranstaltung im Rahmen der Buchmesse fanden prominente Autorinnen und Autoren aus Italien klare Worte zum Umgang der Meloni-Regierung mit Meinungs- und Pressefreiheit. "Die politische Macht unterdrückt die Stimmen, die sie nicht hören wollen", sagte zum Beispiel Francesca Melandri. Antonio Scurati, der eine mehrbändige Romanbiografie über Mussolini verfasst hat und eine geplante Rede am Tag der Befreiung vom Faschismus im Fernsehen nicht halten durfte, berichtet: "Ich wurde als Feind behandelt wie ein räudiger Hund." Er sei "persönlich angegriffen, diffamiert und zensiert" worden. Auch das Motto des Gastland-Auftrittes, "Wurzeln in der Zukunft", interpretiert Scurati kritisch: Ihm zufolge wollen die italienischen Organisatoren damit auf die Wurzeln des (Neo-)Faschismus' verweisen.

Geschichte einer neofaschistischen Radikalisierung

Mit genau diesem Neofaschismus beschäftigt sich Davide Coppo in seinem eindrücklichen Roman "Der Morgen gehört uns" (Übersetzung: Jan Schönherr). Er beobachtet seinen Protagonisten Ettore zu Beginn der 2000er-Jahre dabei, wie er an eine faschistische Jugendorganisation in Mailand gerät und dokumentiert die langsame Radikalisierung. Erst sind es vor allem ein charismatischer Mitschüler und die Lektüre von Büchern und Online-Foren mit fragwürdigen Inhalten, die den schüchternen Jungen in den Bann ziehen.

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Nachdem die Konfrontation mit dem Mitglied eines linken Kollektivs fast eskaliert, fühlt Ettore sich "euphorisch": "Das ist genau das Gefühl, das ich will. Das mich definiert. Ich war glücklich, wo ich hingehörte, erkennbar und erkannt. Man hasste mich, und dieser Hass machte mich aus." Er merkt, dass ihn die Gewalt immer stärker elektrisiert - und wird schließlich selbst zum Straftäter.

Coppo schreibt in seinem Nachwort: "Alles in diesem Buch ist Fiktion, wirft jedoch seine Schatten zurück auf eine reale Vergangenheit." In verschiedenen Interviews berichtet er davon, dass er sich als Jugendlicher selbst eine Zeit lang für die neofaschistische Ideologie interessierte. Zu schreiben begann er, als der Rechtspopulismus in mehreren Ländern Europas immer stärker wurde, wie er dem "Fluter" erzählt: "Ich wollte herausfinden, wie mein Leben verlaufen wäre, hätte ich meine Meinung nicht geändert. So fing ich an, mich mit einem Teil meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, die ich vor mir selbst versteckt hatte." Das Ergebnis ist eine beklemmende Lektüre, die mit ihrer Botschaft weit über die Grenzen Italiens hinausreicht.

Quelle: ntv.de

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