
Otfried Preußler geriet 1944 nach zwei Jahren an der Ostfront in Kriegsgefangenschaft.
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Der auch Jahre nach seinem Tod populäre Kinderbuchautor Otfried Preußler geriet als Wehrmachtssoldat in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Der Literaturwissenschaftler Carsten Gansel hat erforscht, wie der Schöpfer von "Krabat" seine dramatischen Erfahrungen schriftstellerisch verarbeitete.
Carsten Gansel ist ein leidenschaftlicher Wissenschaftler, ein Wühler, der nicht im Elfenbeinturm sitzt, sondern lieber in öden Räumen und dort Berge von Dokumenten durchstöbert. Er nutzte die wenigen Jahre, in denen Russland seine - einst - streng geheimen Archive für die Forschung offenhielt. Die Wiederentdeckung der Originalfassung von Heinrich Gerlachs großartigem Stalingrad-Roman in Moskau haben wir ihm zu verdanken. Zuletzt befasste sich Gansel mit Otfried Preußler, einem der bedeutendsten Kinder- und Jugendbuchautoren Deutschlands nach 1945.
Wieder sichtete Gansel russische Militär- und Geheimdienstdokumente - zum Glück wurde er rechtzeitig fertig. "Die letzten Recherchen sind 2020 gelaufen. Solche Archivarbeiten sind aktuell mit Sicherheit nicht mehr möglich", sagt er ntv.de angesichts der Eiszeit zwischen Moskau und dem Westen infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine. Die Ergebnisse seiner Mühen hat der Wissenschaftler in einem Buch "Kind einer schweren Zeit: Otfried Preußlers frühe Jahre" veröffentlicht. In ihm zeichnet Gansel nach, wie der weltberühmte Autor das Trauma seiner Kriegserlebnisse über Jahrzehnte hinweg schriftstellerisch verarbeitete.
Der Professor für deutsche Literatur an der Uni Gießen geht insbesondere auf die Niederschrift von "Krabat" ein. Die Geschichte des Müllergesellen ist eine über Macht, wie man sie missbrauchen kann, um junge Menschen zu ködern, aber eben auch, wie man sich von ihr befreit, dadurch andere rettet und erlöst. Krabat verfällt dem bösen Zauberer samt seiner schwarzen Magie und entzieht sich ihm wieder.
Mehrfach dem Tod ins Auge geblickt
Preußler folgte dem Ruf Hitlers, auch ein übler Verführer, meldete sich, obwohl kein glühender Nazi, begeistert zum Kriegsdienst und geriet als blutjunger Offizier nach zwei Jahren an der Ostfront 1944 in Gefangenschaft. Wie Krabat erlebte der Schriftsteller, wie enge Weggefährten plötzlich für immer verschwanden, und blickte dem Tod selbst mehrfach in die Augen: "Noch ähnelte ich in meiner Dürre dem Mahatma Ghandi", beschrieb er später seinen körperlichen Zustand während der insgesamt fünfjährigen Inhaftierung in den Lagern von Jelabuga und Kasan.

Dass sich Preußler in "Krabat" auf seine Kriegsgeschichte bezieht, wird schon länger angenommen.
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Die Parallelen zwischen fiktivem (Krabat) und wahrem Erleben (Preußler) sind kein Zufall. Die Literaturfigur und ihr Schöpfer sind beide Überlebende einer dunklen Episode ihres Daseins. Preußler, der auch "Räuber Hotzenplotz" und "Die kleine Hexe" erfand, stellte Todesnähe, Angst und Hunger auf der einen Seite die "Erfahrung der Hoffnung und des Zusammenhalts, der menschlichen Begegnungen" auf der anderen Seite entgegen - auch das passt zur Story des Krabat.
Die These, dass der Autor in "Krabat" seine Kriegsgeschichte thematisierte, wurde schon länger diskutiert. Gansels Verdienst ist es, sie wissenschaftlich untermauert zu haben, indem er Preußlers "junge Jahre" akribisch untersuchte und mit Erkenntnissen der Psychologie verknüpfte. Offenkundig spielte Preußlers Unterbewusstes eine wesentliche Rolle, als er sich Ende der 1950er-Jahre die ersten Gedanken über das Werk machte, aber auch dabei, dass er deutlich länger brauchte als geplant. Die Erstausgabe erschien 1971.
Das Mittel der Allegorie
Gansel kommt folgerichtig zu dem Schluss, dass es sich bei "Krabat" um eine Form der Traumabewältigung handeln muss. Während viele andere bedeutende Schriftsteller ihre tragischen Erfahrungen an der Front - Heinrich Gerlach gehört zu ihnen - oder in Konzentrationslagern in autobiografischen Romanen niederschrieben, wählte Preußler das Mittel der Allegorie.
Jedenfalls zuerst. Mitte der 80er-Jahre machte sich Preußler, der 2013 im Alter von 89 starb, an einen biografischen Roman, in dem die Hauptfigur, ein Offizier namens Trenkler, als sein Alter Ego erkennbar ist: ein Leutnant der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg im südlichen Teil der Ostfront auf dem heutigen Gebiet der Ukraine und Moldaus, der es mit "dem Iwan" zu tun hat und in Gefangenschaft gerät. Er trug den Arbeitstitel "Bessarabischer Sommer" und ist Fragment geblieben. Den Roman brach Preußler ab, weil er sich nach eigenem Bekunden lieber doch nicht "hinter der Maske einer literarischen Kunstfigur zu verbergen" gedachte.
Stattdessen entschied er sich nun doch für eine Autobiografie in Ich-Form, die "Verlorene Jahre?" heißen sollte. Das Fragezeichen deutet an, dass Preußler bis kurz vor dem Ende seines Lebens Zweifel hatte, alles richtig gemacht zu haben. Auch das Werk ließ er unvollendet, obwohl sich der 2014 verstorbene damalige Herausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, als einer der ersten Leser begeistert äußerte. Gansel erklärt zu dem Abbruch: "Das Vergangene, auch das Traumatische, ist verarbeitet." Preußler sei zu dem Schluss gekommen: "Es sind ganz und gar keine verlorenen Jahre gewesen. Im Gegenteil."
Auszüge aus unvollendeter Autobiografie
In Gansels Buch sind zum ersten Mal Auszüge aus dem Romanfragment und der unvollendeten Autobiografie veröffentlicht. Sie sind Bestandteile bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie Erinnerungen in das Werk eines Schriftstellers einfließen, es befruchten - oder zu Fall bringen können. Wer das haargenau erfahren will, ist bei Gansel bestens aufgehoben, auch wenn sich der eine oder die andere angesichts der Detailfülle fragen wird, ob es zwingend 560 Seiten sein mussten, allein die "frühen Jahre" Preußlers zu erzählen. Man ahnt, der Lektor hätte es gerne etwas kürzer gehabt.
Zu lesen lohnt es sich so oder so: Das Buch hat durch Putins Krieg gegen die Ukraine eine unerwartete Aktualität erhalten. Es endet mit dem Wunsch Preußlers, den er in seinen späten Jahren festhielt: "Ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass es den Mächtigen dieser Welt gelingen möge, endlich jenen Frieden zustandezubringen, den unsere Völker nach den bitteren Erfahrungen des letzten Krieges längst schon miteinander geschlossen haben." Davon ist die Erde gerade weit entfernt. Die Folgen bekommt die Wissenschaft schon zu spüren. Gansel jedenfalls hat keine Hoffnung, wieder in russische Archive einzutauchen, um weitere Raritäten auszubuddeln. Er sagt: "Ich glaube, das war es."
Quelle: ntv.de