Debütroman "22 Bahnen" Zwei Schwestern und ein Mutter-Monster
11.06.2023, 12:07 Uhr Artikel anhören
Im Schwimmbad findet Tilda Zuflucht.
(Foto: picture alliance / Westend61)
Tilda träumt von einem anderen Leben fern der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen ist. Doch da sind ihre kleine Schwester und die alkoholkranke Mutter. Caroline Wahls Debütroman "22 Bahnen" um Freiheit und Verantwortung geht ans Herz.
"Hafermilch, Mandelmilch, Cashewmus, tiefgefrorene Himbeeren, Hummus, Kölln Haferflocken, Chiasamen, Bananen, Dinkelnudeln, Avocado, Avocado, Avocado." Waren über den Scanner ziehen, Person erraten, dann erst hochschauen - dieses Spiel spielt Tilda, wenn sie an der Supermarktkasse sitzt. Im Fall des 30,72-Euro-Einkaufs ist es dann zwar kein schlaksiger Mann mit rahmenloser Brille, sondern eine junge Frau, aber sie trägt das prophezeite Shirt mit dem Levi's-Schriftzug.
Tilda studiert Mathematik, verdient nebenbei als Kassiererin Geld und schwimmt jeden Tag ihre "22 Bahnen", so der Titel des Debütromans von Caroline Wahl. Manchmal kommt Tildas zehnjährige Schwester mit ins Schwimmbad, aber nur, wenn es regnet. Sonst sitzt Ida lieber in ihrem Zimmer und malt.
"Wir sind intakte Schwestern. Zu 100 Prozent", stellt Ich-Erzählerin Tilda fest. Aber die beiden leben in keiner "Abendbrottisch-Familie", wie sie es nennt, gemeinsame Mahlzeiten mit den Eltern und ein Familienleben gibt es nicht. "Ich hatte keinen Zahnarzt-Vater, ich hatte gar keinen Vater. Ich hatte nur eine Mutter, die sich verhielt wie ein verantwortungsloser Teenager." Die Mutter ist Alkoholikerin. Es fing an, als Tilda 13 Jahre alt war und einmal in der Woche den "Klaras Bücherstube"-Jutebeutel voll mit leeren Flaschen zum Glascontainer schleppen musste. Inzwischen liegt der Rekord der Mutter bei vier Flaschen Wein und Sekt pro Tag.
Wenn die Mutter zu Hause ist, liegt sie meistens auf dem Sofa im Wohnzimmer und kümmert sich nicht um ihre Töchter. Nur etwa alle 12 Tage brät sie Spiegeleier, aber die hassen die Schwestern inzwischen. Denn es gibt sie immer dann, wenn die Mutter besonders betrunken war und gewütet hat. Kurz vorher ist sie jedes Mal "eine tickende Zeitbombe": "Ich schlucke, als ich sie grinsend in ihrem kurzen roten Kleid auf wackligen Beinen im Türrahmen stehen sehe. Natürlich wusste ich, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis es wieder eskaliert. (…) Ich beobachte sie, während sie sich zu uns setzt, ihre glasigen, geschminkten Augen, ihre geröteten Wangen, ihre verschwitzten Haare. Tick, Tack."
Das traurigste Haus in der Fröhlichstraße
Mit diesem unberechenbaren "Monster" will Tilda ihre kleine Schwester nicht allein lassen. Ihre Freundinnen und Freunde haben sich nach dem Abitur in die weite Welt verabschiedet und kehren jetzt nur noch zu wichtigen Party-Anlässen zurück. Tilda aber ist nie weggezogen. Im traurigsten Haus in der Fröhlichstraße organisiert sie den Alltag, bringt Ida jeden Tag zur Schule und schmeißt die Kleidung ihrer Mutter weg, wenn die Flecken mal wieder gar nicht rausgehen. Dann bekommt Tilda die Möglichkeit, sich für eine Promotionsstelle in Berlin zu bewerben. Endlich raus aus der verhassten Kleinstadt - doch was passiert dann mit Ida? "Ich kann nur gehen, wenn Ida gewappnet ist. Sie muss eine Kämpferin werden, und ich muss sie rüsten", beschließt Tilda.
Aber nicht nur Ida beschäftigt die junge Frau. Im Schwimmbad taucht plötzlich Viktor auf und krault dort ebenfalls jeden Tag exakt 22 Bahnen. Viktor ist der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda befreundet war, und der Einzige aus seiner sechsköpfigen Familie, der nicht bei dem Autounfall vor fünf Jahren ums Leben gekommen ist. Und während die Erinnerung an den Abend vor dem Unfall Tilda noch immer belastet, lässt der wortkarge Viktor in ihrem Bauch nicht nur Schmetterlinge, sondern "mindestens eine fette Libelle" flattern. Und das ist gleichzeitig schrecklich und wunderbar.
Großartiges Schwestern-Duo
Für ihren ersten Roman hat sich Caroline Wahl schwere Themen vorgenommen: Alkoholismus, dysfunktionale Familie, Verlust und Schmerz. Doch so traurig die Grundstimmung dieser Coming-of-Age-Geschichte auch ist, sie zieht ihre Leserschaft überhaupt nicht runter, im Gegenteil. Und das hat zwei Gründe. Zum einen wählt die Autorin eine direkte, sehr heutige Sprache, schreibt äußerst knappe Dialoge und schafft es, Emotionalität zu erzeugen, ohne dabei in Kitschverdacht zu geraten.
Zum anderen ist da dieses großartige Schwestern-Duo. Tilda, die einen durchgetakteten Tag hat, im Schwimmen eine Zuflucht findet und hin- und hergerissen ist zwischen Verantwortung und dem Wunsch, frei zu sein. Ida, die nicht so gerne mit anderen Menschen spricht, im Freibad bei Nieselregen unermüdlich ihre fünf Tauchringe an die Wasseroberfläche zurückholt und mit einer rosafarbenen Cateye-Sonnenbrille auf der Nase langsam an Selbstbewusstsein gewinnt.
Ja, Wahl beschreibt Szenen der Angst, wenn die Mutter kurz vor dem Ausrasten ist oder mit einer lebensgefährlichen Alkohol-Tabletten-Mischung im Magen im Krankenhaus landet. Aber darunter mischen sie auch immer wieder kleine Momente des Glücks und der Zuversicht. Wer also noch die perfekte Sommerlektüre sucht: Hier kommt sie. "22 Bahnen" ist einer dieser gleichzeitig zarten und rauen Romane, bei dem Leserinnen und Lesern schon mal ein bisschen warm ums Herz werden kann.
Quelle: ntv.de