Hauptverdächtiger im Fall MaddieChristian B. steht vor Gericht - wegen Vergewaltigungen

Seit Jahren ist Christian B. der Hauptverdächtige im Fall um das Verschwinden von Madeleine McCann. In Braunschweig steht er nun wegen schwerer Sexualdelikte vor Gericht, während er wegen Vergewaltigung bereits in Haft sitzt. Viele der Taten verbindet ein gemeinsamer Zeuge, der auch in diesem Prozess zur Schlüsselfigur werden könnte.
In wenigen Stunden werden sich im Landgericht Braunschweig die Türen von Saal 141 öffnen und den Prozessbeteiligten Einlass gewähren. Die Staatsanwaltschaft wird die Anklageschrift gegen Christian B. verlesen, eine mehr als 100 Seiten lange Akte, die auf jahrelangen und intensiven Ermittlungen beruht. Ermittlungen, die letztlich zu mehreren Anklagepunkten führten: den Vorwürfen schwerer Sexualstraftaten an Frauen und Mädchen in fünf Fällen.
"Man kann davon ausgehen, dass der Prozess startet wie jeder andere auch", sagte Oberstaatsanwalt Hans Christian Wolters im Gespräch mit ntv/RTL angesichts des hohen zu erwartenden Interesses. Christian B. wird erstmals, seit der Verdacht im Fall Maddie bekannt wurde, wieder in die Öffentlichkeit treten. Für Justiz- und Ermittlungsbehörden ist der Angeklagte ein alter Bekannter. Seit mehr als zwei Jahrzehnten sieht sich Christian B. immer wieder mit Vergewaltigungs- und Missbrauchsvorwürfen konfrontiert. Wie eine dunkle Linie durchziehen Verurteilungen wegen sexueller Übergriffe und immer neue Anschuldigungen die Vergangenheit des 47-Jährigen. Er ist unter anderem wegen schwerer Sexualdelikte an Kindern vorbestraft, momentan verbüßt er eine siebenjährige Gefängnisstrafe in einer Haftanstalt in Niedersachsen. Das Landgericht Braunschweig hatte ihn 2019 wegen der Vergewaltigung einer 72-jährigen US-Touristin im Jahr 2005 in Portugal verurteilt.
Verbindung zu Madeleine McCann
Internationale Bekanntheit erlangte der gebürtige Würzburger durch einen Fall mit bislang offenem Ausgang: In der Sache Madeleine McCann steht B. seit mehreren Jahren unter Mordverdacht. Die damals drei Jahre alte Maddie verschwand 2007 aus ihrem Bett in einer portugiesischen Ferienwohnung, während ihre Eltern in einem nahegelegenen Restaurant zu Abend aßen. Jahrelang sorgte der Fall für Schlagzeilen, internationale Fernsehteams begleiteten die britische Familie, die zwischenzeitlich selbst unter Verdacht geriet, auf Schritt und Tritt. Selbst Papst Benedikt XVI. empfing Gerry und Kate McCann in Rom. Trotz jahrelanger Ermittlungen blieb Maddie verschwunden und die Suche nach einem Verdächtigen erfolglos, bis vor etwa fünf Jahren Christian B. ins Visier der Behörden geriet.
Im Juni 2020 gaben das Bundeskriminalamt und die Staatsanwaltschaft Braunschweig überraschend bekannt, im Fall Maddie gegen einen mehrmals vorbestraften Sexualstraftäter wegen Mordverdachts zu ermitteln. Die deutschen Ermittler sind bis heute davon überzeugt, mit B. den Täter gefunden zu haben, der das britische Mädchen entführte und ermordete. Und sie sind damit nicht allein. Auch die portugiesische Reporterin, Sandra Fegueira geht davon aus, dass Christian B. in engem Zusammenhang mit dem Fall Madeleine McCann steht. Fegueira war eine der ersten Reporterinnen vor Ort, als Maddie 2007 verschwand. "In meinem Herzen habe ich das Gefühl, dass wir die Person gefunden haben, die Madeleine entführt hat", sagte sie im Gespräch mit ntv/RTL. Die Leiche des Mädchens wurde bis heute nicht gefunden.
Prozessauftakt in Braunschweig
Für eine Anklage im Fall Maddie reichen die Beweise gegen Christian B. bislang offenbar nicht aus. Vor dem Landgericht Braunschweig werden ihm drei Fälle schwerer Vergewaltigung und zwei Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern vorgeworfen. Auch diese Taten sollen sich in Portugal ereignet haben. Die Staatsanwaltschaft hatte B. im Oktober 2022 angeklagt.
Zwar gibt es keine DNA-Spuren, im Gespräch mit ntv/RTL verwies Oberstaatsanwalt Wolters jedoch darauf, dass man über eine Menge handschriftlicher Aufzeichnungen von Christian B. verfüge. "Dabei handele es sich um eine Art Notizbuch mit teilweise sehr persönlichem Inhalt. Diese Notizbücher gäben Einblicke in die Gedankenwelt des Angeklagten", so Wolters. In den Büchern seien Aufzeichnungen zu finden und selbst gemalte Bilder. Es handele sich um sexuelle Fantasien. Laut ntv/RTL-Informationen geht es dabei unter anderem um die Entführung von einer Frau und einem Kind - anschließend wird eine Vergewaltigung geschildert. Auch auf einem der selbst gemalten Bilder sei zu sehen, wie ein Kind vergewaltigt wird.
Die Aufzeichnungen könnten zu den Vorwürfen der Anklageschrift passen. Die Taten sollen zwischen den Jahren 2000 und 2017 stattgefunden haben. Laut Anklage habe B. eine bislang unbekannte etwa 70 bis 80 Jahre alte Frau in ihrer Ferienwohnung in Portugal überrascht, sie gefesselt, vergewaltigt und ausgepeitscht. Die gleichen Taten werden ihm in Bezug auf eine jüngere Frau vorgeworfen. B. soll das Geschehen in beiden Fällen mit einer Videokamera aufgezeichnet haben.
Im gleichen Zeitraum soll B. ein ebenfalls unbekannt gebliebenes deutschsprachiges Mädchen im Alter von mindestens 14 Jahren in seinem Haus in Portugal nackt an einen Holzpfahl gefesselt, mit einer Peitsche geschlagen und zum Oralverkehr gezwungen haben. Auch diese Tat habe er auf Video aufgenommen. In den Jahren 2007 und 2017 soll er außerdem zwei Mädchen im Alter von zehn und elf Jahren sexuell missbraucht haben. In einem der Fälle habe das Opfer unmittelbar danach seinen Vater alarmiert, woraufhin B. noch vor Ort von den Behörden gefasst und nach Deutschland ausgeliefert wurde.
Helge B. wird zum Bindeglied
Auch wenn der bevorstehende Prozess, die Vergewaltigung, wegen der B. derzeit in Haft sitzt sowie das Verschwinden von Madeleine McCann streng voneinander zu trennen sind, ist den Fällen neben dem identischen Verdächtigen eine weitere Sache gemein: der Zeuge Helge B.
Mehrfach hatte der 52-jährige Christian B. mit seinen Aussagen zur Causa McCann belastet. Dem "Spiegel" zufolge hat Helge B. Ermittlern gegenüber ausgesagt, er habe sich damals mit seinem Bekannten Christian B. über den Fall unterhalten. Es sei schon merkwürdig, dass das Mädchen so spurlos verschwunden sei, habe Helge B. gesagt. Daraufhin soll Christian B. erwidert haben: "Ja, sie hat nicht geschrien." Der Mann habe diese Worte ernst gemeint, sagte Helge B. Er habe das so verstanden, dass Christian B. das Kind tatsächlich entführt habe. Wie die Ermittler herausfanden, soll das Handy von Christian B. tatsächlich bis kurz vor dem Verschwinden von Maddie in der Funkzelle am Tatort in Praia da Luz eingeloggt gewesen sein.
Weitere Aussagen von Helge B. machten Ermittlungsbehörden auch 2018 auf den Fall der 72 Jahre alten Amerikanerin in Portugal aufmerksam, für deren Vergewaltigung Christian B. derzeit in Haft sitzt. Im Gespräch mit ntv/RTL bestätigte Oberstaatsanwalt Wolters, dass im nun bevorstehenden Prozess Teile der Anschuldigungen ebenfalls auf Zeugenaussagen beruhten. Helge B. und der zweite Hauptbelastungszeuge Manfred S. hatten in ihren Aussagen gegenüber der Staatsanwaltschaft angegeben, die bislang unauffindbaren Videoaufnahmen der beschriebenen Taten selbst angesehen zu haben.
Wie glaubwürdig sind die Zeugen?
Zwar haben sowohl Helge B. also auch Manfred S. offenbar selbst eine kriminelle Vergangenheit. Wie der "Spiegel" berichtete, sei Helge B. in Deutschland bereits wegen verschiedener Vergehen aktenkundig gewesen; in Griechenland habe B. einige Zeit in Haft gesessen. Dennoch scheint die Staatsanwaltschaft in Bezug auf den bevorstehenden Prozess keine Zweifel an den Aussagen B.s zu haben.
Derweil ist dieser insbesondere den vier Strafverteidigern von Christian B. ein Dorn im Auge. Im Gespräch mit ntv/RTL beschrieb Verteidiger Friedrich Fülscher den Zeugen als "wenig glaubwürdig". Keine der im Prozess auftretenden Geschädigten sei in den Videoaufnahmen zu sehen. Generell bestünden Zweifel an der Existenz der Kassetten. Auch die Vorwürfe der Anklage bewertete Fülscher als "unheimlich wackelig". Man werde daher "auf Freispruch verteidigen, und zwar Freispruch hinsichtlich aller Anklagevorwürfe", so der Verteidiger.
Medienberichte und auch der Druck der Öffentlichkeit könnten das Verfahren durchaus beeinflussen, gab Fülscher zu bedenken. Seit drei Jahren werde sein Mandant durch die Medien gezerrt, mitunter seien Falschinformationen im Umlauf. Er hoffe, dass sich das Gericht von diesen Vorverurteilungen frei mache. Darüber hinaus sieht Fülscher die Verteidigung für den Prozess gut vorbereitet. Er kündigte bereits an, dass sein Mandant zunächst schweigen werde. Zudem werde man Material einbringen, welches "Gericht und Staatsanwaltschaft noch nicht bekannt ist".
Die Vorgeschichte des Angeklagten, gerade die Verbindung zur Causa Maddie, könnte in Saal 141 für voll besetzte Plätze sorgen. Das Interesse, auch internationaler Medien, ist riesig. Denn der Prozess hat das Potenzial, über die aktuelle Anklage hinaus Wirkung zu entfalten. Sollte das Gericht der Ansicht der Staatsanwaltschaft folgen und den Zeugen Helge B. als glaubwürdig einstufen, könnte das nicht nur den Prozess in Braunschweig in eine bestimmte Richtung lenken. Die Bewertung könnte auch ein mögliches Verfahren um Madeleine McCann beeinflussen und in dem Fall nach mehr als 16 Jahren erstmals einen Angeklagten liefern - womöglich einen alten Bekannten.