Akt der Selbstjustiz Der Fall Kalinka
22.05.2014, 06:47 Uhr
Aus dem gefühlten Ankläger ist ein Angeklagter geworden.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Seit 30 Jahren jagt André Bamberski den Mörder seiner Tochter Kalinka. Dabei könnten ihm die Grenzen dessen, was juristisch legitim ist und was nicht, abhanden gekommen sein.
Das Leben von André Bamberski nimmt am Morgen des 10. Juli 1982 eine entscheidende Wendung. An diesem Morgen wird Bamberskis Tochter Kalinka tot in ihrem Bett gefunden. Bis dahin ist Bamberski ein ganz normaler Mann. Buchhalter, geschieden, ein Kind. Doch nun ist seine Tochter tot und Bamberski verspricht an ihrem Grab, dass ihr Mörder gefasst wird. Jahrzehnte später wird er sagen, es gehe nicht um Gefühle, "nicht einmal um Liebe". Es gehe auch nicht um Rache, sondern darum, die Rechtsordnung wiederherzustellen. Bamberskis Rechtsordnung ist im Juli 1982 durcheinandergeraten.
Am Abend vor ihrem Tod hatte Kalinkas Stiefvater, Dieter K., der 14-Jährigen eine Spritze gegeben. Kalinka lebte bei der Mutter und deren Ehemann K. am Bodensee. Die genauen Umstände des Todes konnten nie geklärt werden. K., ein Kardiologe, sagt aus, er habe dem Mädchen am Vorabend ein Eisenpräparat gespritzt. Vor Gericht räumt er später einen möglichen ärztlichen Kunstfehler ein.
Kalinkas leiblicher Vater, André Bamberski, glaubt ihm kein Wort. Er ist davon überzeugt, dass der inzwischen 78-jährige K. damals seine Tochter betäubte, um sie zu vergewaltigen. Infolge der Injektion sei das Mädchen dann gestorben. Wahrscheinlich erlitt sie einen Herz-Kreislauf-Schock und erstickte an ihrem Erbrochenen. Akribisch sammelt Bamberski jahrelang jedes Indiz, das für seine These spricht. Sein Hauptargument ist der lückenhafte Obduktionsbericht, den er vier Monate nach dem Tod seiner Tochter einsehen kann. Demnach wurde ein Sexualdelikt gar nicht in Erwägung gezogen, obwohl Kalinka außer den Einstichen an den Armen auch leichte Verletzungen an den Genitalien hatte. K. bestreitet die Vergewaltigungsvorwürfe all die Jahre vehement. Mit K. befreundete Ärzte kommen schließlich zu dem Schluss, die Todesursache könne nicht eindeutig ermittelt werden.
In Deutschland werden die Ermittlungen zum Tod des Mädchens 1987 endgültig eingestellt, ohne dass es je zu einer Anklageerhebung kommt. Seither kämpft der Franzose für eine Auslieferung des Arztes an Frankreich. Entsprechende Anträge der französischen Justiz werden aber von Deutschland mehrfach abgewiesen. Die Begründung: das 1987 aus Mangel an Beweisen eingestellte Ermittlungsverfahren. Frankreichs Justiz sieht den Fall jedoch ganz anders. Von einem französischen Gericht wird K. 1995 in Abwesenheit wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu 15 Jahren Haft verurteilt. Er muss die Strafe jedoch nicht absitzen, weil Deutschland ihn nicht ausliefert.
Nächtliche Entführung
Im Herbst 2009 wird K. schließlich aus seinem Wohnort in Bayern in die elsässische Stadt Mülhausen verschleppt. Nach einem anonymen Anruf findet ihn die Polizei gefesselt und verletzt in der Nähe des Gerichts und nimmt ihn fest. Hinter dieser Entführung steckt nach Überzeugung der französischen Justiz Kalinkas Vater. Erst K.s Verschleppung nach Frankreich ermöglicht, dass das Verfahren gegen den deutschen Arzt in seiner Anwesenheit geführt werden kann; der Europäische Gerichtshof hatte das Verfahren von 1995 kritisiert, weil K. nicht anwesend war und auch keine Berufungsmöglichkeit hatte.
2011 und 2012 verurteilen französische Gerichte K. erneut, diesmal in Anwesenheit und mit der Möglichkeit zur Berufung. Anfang April 2014 bestätigt das französische Kassationsgericht in Paris diese Urteile endgültig. Im Prozess hatten zwei Frauen ausgesagt, die nach eigenen Angaben als junge Mädchen von K. betäubt und missbraucht worden waren. Die Taten seien 1985 im Osterurlaub passiert, die Mädchen waren damals 14 und 15 Jahre alt. Der ehemalige Arzt wird wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. André Bamberski ist am Ziel.
Inzwischen kündigen K.s Verteidiger an, vor den Gerichtshof der Europäischen Union ziehen zu wollen. Sie kritisieren, dass das Strafmaß für Körperverletzung mit Todesfolge sehr hoch sei. Außerdem habe K. nur der Prozess gemacht werden können, weil er widerrechtlich nach Frankreich verschleppt wurde. Und niemand könne für dieselbe Tat zweimal verurteilt werden. Allerdings gibt es kein deutsches Urteil, denn die bayerischen Behörden hielten die Tat nicht für beweisbar, weshalb es gar nicht erst zur Anklage kam.
Verzweiflungstat eines Vaters
In dem Berufungsverfahren war erneut die vollkommen unterschiedliche Sicht von Deutschland und Frankreich auf den Fall deutlich geworden. Die französische Staatsanwaltschaft übte scharfe Kritik an der deutschen Justiz. Sie habe die Akten "auf Grundlage einer verpfuschten Autopsie und verpfuschter Ermittlungen" im Jahre 1987 geschlossen. Besonders pikant daran: Zehn Jahre später wurde K. in Deutschland vom Landgericht Kempten wegen der Vergewaltigung eines anderen 16-jährigen Mädchens in seiner Praxis zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt und verlor auch seine Zulassung als Arzt. Weil er trotzdem weiter praktizierte und dafür auch Honorare erhielt, wurde er später zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.
Doch auch Bamberski landet nun möglicherweise im Gefängnis. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 76-Jährigen vor, K.s Entführung in Auftrag gegeben zu haben. Die Anklage lautet auf Verdacht der gemeinschaftlichen Entführung, Freiheitsberaubung und Körperverletzung. Ebenfalls angeklagt sind zwei Männer, die K. an seinem Wohnort brutal zusammengeschlagen und verschleppt haben sollen.
Bamberski hat kurz nach der Tat im französischen Rundfunk eingeräumt, er habe am 9. Oktober 2009 bei einem Treffen mit einer nicht genannten Person sein Einverständnis gegeben, den Mediziner nach Frankreich zu bringen. In seinem Hotelzimmer wurden 19.000 Euro Bargeld gefunden, der Lohn für die Entführer. Auch Bamberskis Motiv ist offensichtlich: Die 1995 gegen K. verhängte Strafe wäre im März 2015 verjährt. "Wenn Frankreich weiter nichts getan hätte, wäre der Mörder frei und ich könnte nichts mehr tun", sagte Bamberski damals nach seiner Anhörung. Selbstjustiz schien ihm nach Jahrzehnten des Wartens wohl die einzige Lösung. Dafür, dass er das seiner Tochter gegebene Versprechen gehalten hat, drohen André Bamberski zehn Jahre Gefängnis.
Quelle: ntv.de